Vorschulkinder brauchen Magie
Daher stattdessen: knallharte Recherche. Anruf bei Michael Luterbacher, Dozent für Entwicklungspsychologie an der Pädagogischen Hochschule Luzern. Der muss es wissen. Ist es nun Frevel, Kindern zur Weihnachtszeit faustdicke Lügen aufzutischen? Fake News? Schlimmstenfalls gar den Boden zu bereiten für Aluhut und Esoterik?
«Ach was», findet der 52-Jährige. Kin«Genau», findet auch Susanna Fischer, Erziehungsberaterin in Zürich und täglich mitder im Vorschulalter – und dies sei wohl das gängige Weihnachts-Mär-Alter – befänden sich entwicklungsmässig in der «präoperationalen Phase». Und zu der, erklärt Luterbacher, gehöre das «magische Denken». Die Tatsache also, dass die meisten Drei- bis Vierjährigen an übernatürliche Mächte von Feen, Zwergen und anderen Zauberwesen glauben und Kinder zwischen zwei und sieben Jahren Fantasie und Wirklichkeit munter mischen: Tiere können sprechen; der Stuhl, an dem man sich den Zeh gestossen hat, ist böse. Wünsche sind Wahrheit, Geträumtes ist real. Die Welt als Wille und Vorstellung. Das ist Biologie.
Kinder brauchen Magie um die Welt zu verstehen
Da könnten Mutter und Vater noch solche Hardcore-Realisten sein, Kinder dächten im Vorschulalter halt so und bildeten munter ihre eigenen Theorien, um sich die unverständliche Welt zu erklären, sagt Luterbacher. «Da dürfen Eltern ihren Einfluss nicht überschätzen.» Wer je versucht hat, seinem weinenden Kindergartenkind die Überzeugung auszureden, im Kinderzimmer wohne eine Hexe, weiss, dass der Entwicklungspsychologe recht hat und hier mit Dozieren über Märchen, Mittelalter, Misogynie und Schatten von Strassenlaternen nix zu machen ist. Besser: ein Schild malen «Kinderzimmer für Hexen verboten». Und gut ist.
«Genau», findet auch Susanna Fischer, Erziehungsberaterin in Zürich und täglich mit Skrupeln, Ängsten und Befürchtungen von Eltern konfrontiert.
Es ist gut, sich auf die Gedankenwelt des Kindes einzulassen. Dadurch wird es gestärkt.
Der Junge oder das Mädchen lerne dadurch, dass die Eltern seine Gedanken nicht rüde vom Tisch wischten, sondern seine eigene Wahrnehmung zählt, seine Gefühle ernst genommen werden. Zudem sei die Weihnachtszeit ideal, um miteinander ein wenig zu philosophieren: darüber, was es so alles in der Welt gibt, obwohl man es nicht sehen kann und ob möglich ist, was unmöglich erscheint. Getreu Albert Einstein: «Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist.» Ausserdem, ist Susanna Fischer überzeugt, könne es nicht schaden, unserer Welt voller kalter Tatsachen ein paar wärmende Geschichten entgegenzusetzen. Ein bisschen Feenstaub über die Wirklichkeit zu pusten.
Die Zweifel kommen automatisch
Leuchtet ein. Was aber, wenn das Kind nun partout nicht von Weihnachtsmann und backenden Engeln lassen will, wenn es noch als Fünftklässler eifrig seinen Wunschzettel auf der Fensterbank platziert und lauernd den Kamin beäugt, ob da gerade wohl ein dicklicher älterer Herr mit weissem Bart drin herumrumort. «Ach, wissen Sie», sagt Susanna Fischer tiefenentspannt, «solange das Kind ganz normal und fröhlich ist und kein psychisches Problem vorliegt, gibt sich der Glaube an Magisches von allein, wenn das Kind mit anderen Kindern redet. Zweifel kommen irgendwann automatisch.» Ja, und dann? Dann steht man als Eltern doch als Lügenbande da...
Es ist mir in meiner langjährigen Berufstätigkeit noch nie passiert, dass ein Kind seinen Eltern den Weichzeichner über der Realität übel genommen hätte.
Ausser vielleicht, diesbezüglich herrscht Konsens in der Wissenschaft, wenn Samichlaus und Schmutzli, Weihnachtsmann und Christkind als Sanktionsmittel dienen. Mit Drohungen hantiert wird wie «Schmutzli steckt dich in den Sack, wenn du frech bist», «Das Christkind bringt keine Geschenke, wenn du deine Schwester beisst». All das kann traumatisieren und Ängste schüren. Deshalb: Ab damit in die Mottenkiste.
Alle Menschen brauchen Geschichten
Drittes Fachgespräch, um auch ja einen Eintrag ins goldene Buch der sauberen Recherche zu bekommen. Ina Blanc ist Entwicklungspsychologin an der Universität Basel und, wie sie vergnügt sagt, «bekennende Träumerin». Zur Erläuterung führt sie aus: «Geschichten sind für uns Menschen – egal welchen Alters – enorm wichtig. Alles, was wir erfahren, binden wir in Geschichten ein.» Schüler etwa, das sei durch Studien bewiesen, merkten sich Fakten besser, wenn sie in Geschichten verpackt sind.
Und aus der Hirnforschung wisse man, dass vorgestellte Bilder die gleichen Hirnareale aktivieren wie objektiv gesehene Bilder. Ja, es sei sogar wissenschaftlich belegt, dass der Mensch einfache Handlungssequenzen genauso gut durch blosses Imaginieren wie durch wirklich übendes Tun erlernen könne. «Sogar Muskeln kann man so trainieren.» Da ist man als Laie doch platt. Statt Beinpresse im Fitnessstudio auf der Couch chillen und sich die Beinpresserei einfach vorstellen? «So nun nicht», lacht Ina Blanc. Aber das führe jetzt auch ein bisschen weit weg vom Weihnachtsmann.