Da kommt ihm in den Sinn, dass er Papa noch nicht richtig Gute Nacht gesagt hat. Also nochmals nach draussen! Jonathan rennt zum Vater, der wie eine Mumie verpackt im Schlafsack liegt, und hüpft auf dem Rückweg zum x-ten Mal über die Zeltschnüre. Mit scheinbar endloser Energie. Wieder im Schlafsack, raschelt es vor dem Zelteingang. Anushka steckt den Kopf zur Zeltöffnung hinein. Sie will den Schlafsack tauschen in der Meinung, meiner sei wärmer.
Im Gegenzug bietet sie mir die komfortablere Matratze an. Der Deal ist gemacht, was Jonathan auf die Idee bringt, diese nun mit mir zu tauschen, weil bei seiner Matratze anscheinend die Luft ausgeht. Das lasse ich aber nicht gelten, seine Matte ist doch brandneu!
An Nachtruhe ist erst zu denken, als es dunkler wird. Nach einer Weile höre ich Jonathan gleichmässig atmen. Fast gleichzeitig ist aber auch noch ein anderes Geräusch zu vernehmen. Ich stecke den Kopf durch die Zeltöffnung und spähe hinaus in die schwarze Nacht.
In der Dunkelheit erkenne ich den Umriss eines Tiers, das sich an unseren Rucksäcken zu schaffen macht. «Das ist ein Fuchs», ruft mir Martin zu. Ein Fuchs? Das hat Jonathan im Halbschlaf mitbekommen und ist sofort hellwach. Das Tier lässt sich auch durch unser Zurufen nicht aus der Ruhe bringen. «Hoffentlich ist es kein Wolf», entfährt es mir leise. Jonathan hat es gehört und beginnt zu weinen. «Nein, nein», versuche ich, ihn zu beruhigen, «das Tier ist kleiner, es kann nur ein Fuchs sein.»
Der mutmassliche Fuchs bleibt hartnäckig und uns wird bald klar, dass wir die Rucksäcke ins Zelt holen müssen, wenn wir in dieser Nacht noch schlafen wollen. Mein Vater stellt sein Gepäck ins Aussenzelt, ich gehe auf Nummer sicher und nehme unseres ins Innenzelt. Ans Einschlafen ist vorerst nicht zu denken. «Der kommt todsicher wieder», sagt Jonathan.
Ich beschwichtige ihn erneut: «Der hat nur unsere Hauswurst gerochen, weisst du, Füchse haben eine feine Nase.» «Wir sollten ihm alles geben, dann geht er bestimmt», sagt Jonathan müde und Minuten später ist er wieder eingeschlafen. Ich dagegen lausche noch lange nach verdächtigen Geräuschen und werweisse, ob es nicht doch ein junger Wolf gewesen sein könnte.
Gefühlsmässig erwartet man einen Wolf eher im Wald. Wie Bären. Auf einer Höhe von 2600 Metern haben diese Tiere eigentlich nichts verloren, oder? Da kommt mir in den Sinn, dass ich mich in Alaska oberhalb der Waldgrenze auch schon einmal vor Grizzlys in Sicherheit gewähnt habe – bis ich einen solchen frischfröhlich über den Gletscher trotten sah. In der Wildnis ist alles möglich. Martin lässt sich dagegen nicht aus dem Konzept bringen und bleibt unter dem Sternenhimmel.
Es vergeht keine Stunde und schon bin ich wieder hellwach. Der Reissverschluss des Zeltes öffnet sich und Martin steckt den Kopf herein. «Habt ihr noch Platz? Der Fuchs lässt mich nicht in Ruhe, schnüffelt ständig an mir herum.» Als er die Unordnung in unserem Zelt sieht – Rucksäcke, die sich stapeln, und Jonathan, der quer ausgestreckt über den Matratzen liegt –, begnügt er sich mit dem Aussenzelt. Für die restlichen paar Stunden der Nacht.
Wir erwachen mit den ersten Sonnenstrahlen. Neugierig untersuchen wir unseren Zeltplatz nach den Spuren des nächtlichen Unruhestifters. «Schau», ruft Jonathan, «da liegt ja Grossvaters Rucksack hinter dem Felsen!» Tatsächlich: Das geheimnisvolle Tier hat seinen Rucksack aus dem Aussenzelt gerissen und sich über die Chips in der Aussentasche hergemacht. «Seht her, auch der Korkgriff meines Wanderstocks ist angeknabbert», ruft mein Vater dazwischen.
Bei duftendem Kaffee und Nutella-Brötchen lassen wir die Nacht nochmals Revue passieren und einigen uns auf die Fuchs-These. Nun wollen wir aber nicht zu viel Zeit verlieren, denn der Tag soll genutzt werden. Wir bauen unsere Zelte ab, errichten ein Depot und ziehen mit leichten Rucksäcken bergwärts. Der Himmel ist klar, die Morgenluft frisch und wir erreichen unser Tagesziel über einen grobblockigen Grat in knapp zwei Stunden.