Überglücklich und dankbar. Das steht auf den meisten Geburtskarten. Und es sind auch diese Gefühle, die die Gesellschaft von frischgebackenen Eltern erwartet. Doch manche Eltern empfinden nach der Geburt kein Glück und keine Dankbarkeit. Sondern Leere, Traurigkeit oder Angst. Darüber zu sprechen, ist noch immer ein Tabu. Für Mütter. Aber noch viel mehr für Väter.
Dass Mütter nach der Geburt depressive Symptome zeigen oder gar in eine postpartale Depression – auch Wochenbettdepression genannt – schlittern können, ist mittlerweile bekannt. Wie viele es genau sind, ist unklar. Schätzungen gehen von 15 bis 20 Prozent aus. Dass auch schätzungsweise 10 Prozent der Väter betroffen sind, ist in der Öffentlichkeit hingegen selten Thema. «Es braucht so viel mehr, bis Väter sich Hilfe suchen», sagt Andrea Borzatta, Präsidentin der Organisation Postpartale Depression Schweiz, die demnächst Periparto Schweiz heissen wird. Bei Männern würde noch immer eher ein Burn-out diagnostiziert, da diese Diagnose gesellschaftlich anerkannter sei.
Testosteronlevel sinkt
Doch warum erkranken Väter an einer postpartalen Depression? Mehrere Risikofaktoren kommen zusammen, wie verschiedene Studien zeigen. Zum einen spielt die Vorgeschichte eine Rolle. Wer früher bereits depressiv war, läuft eher Gefahr, es nach einer Geburt wieder zu werden. «Manche Väter zeigen bereits während der Schwangerschaft der Partnerin depressive Symptome», erklärt Andrea Borzatta. Ebenso besteht eine «Ansteckungsgefahr»: Hat die Partnerin eine postpartale Depression, weist der Vater je nach Studie ein 24 bis 50 Prozent höheres Risiko auf, ebenfalls zu erkranken. Oft tritt die Depression bei den Vätern erst dann auf, wenn das Kind drei bis sechs Monate alt ist – also etwas später als bei den Müttern. «Partner von erkrankten Frauen müssen in der ersten Zeit extrem viel stemmen. Sie kümmern sich um das Baby, die Frau und den Haushalt – in der Regel neben der Erwerbsarbeit», sagt Andrea Borzatta. Gehe es der Partnerin besser, könnten sie in eine Depression schlittern. Hinzu kommen hormonelle Faktoren. Wird ein Mann Vater, sinkt sein Testosteronspiegel und sein Gehirn schüttet mehr Oxytocin aus. Das heisst, weniger Sexualhormone, dafür mehr Kuschelhormone. Das hat die Natur so eingerichtet, damit der Vater sich um seine Familie kümmert. Ein tiefes Testosteronlevel begünstigt aber das Entstehen einer Depression. «Und gerade bei Männern, die sich stark in der Familie engagieren, sinkt der Testosteronspiegel stärker», erläutert Andrea Borzatta als weiteren Faktor für den Zusammenhang zwischen mütterlicher und väterlicher postpartaler Depression.
Neben diesen Aspekten können zahlreiche andere Umstände eine Rolle spielen: eine traumatische Geburt, Stress, Schlafmangel, mangelnde Unterstützung des Umfelds, sexuelle Frustration oder finanzielle Sorgen. Auch eine schlechte Beziehungsqualität sowie eine grosse Diskrepanz zwischen der Vorstellung, wie das Familienleben sein wird, und der Realität. Psychotherapeut und Väterberater Egon Garstick erklärt: «Nach der Geburt erleben Eltern auch Enttäuschungen.» Die eine oder andere Wunschvorstellung erfülle sich nicht, was zu einem Prozess der Entidealisierung führe. «Das ist ganz normal. Paare, die bereits vor dem Elternwerden gelernt haben, mit Enttäuschungen und ambivalenten Gefühlen konstruktiv umzugehen, können diese besser verarbeiten.» Eltern zu werden, bedeute immer auch ein Verlust: «Man kann vieles von dem, was einem vorher gutgetan hat, nicht mehr machen.»
Eigener Vater als Vorbild
Zudem fühlen sich manche Väter durch eine innige Mutter-Kind-Beziehung ausgeschlossen. Ein Gefühl der Unzulänglichkeit kann Männer frustrieren, zum Beispiel, wenn sich das Baby nur durch Stillen beruhigen lässt. Sich in der Vaterrolle zu finden, kann auch erschwert sein, wenn die Beziehung zum eigenen Vater nicht einfach ist oder war. «Männer, die keine guten Vorbilder hatten, tun sich oftmals schwerer damit», sagt Egon Garstick. Nicht zu vergessen: Viele Väter sind heute einer grösseren Belastung ausgesetzt: «Sie selbst und ihre Partnerinnen haben den Anspruch, dass sie zu Hause engagierter sind, beruflich nehmen sie sich jedoch nicht zurück.» Doch wie zeigt sich eine postpartale Depression bei Männern? Die Symptome können ähnlich sein wie bei Frauen: Antriebslosigkeit, Erschöpfung, Traurigkeit oder Schlafstörungen. Häufiger als Frauen sind Männer jedoch aggressiv oder flüchten sich in die Arbeit, in exzessiven Sport, trinken übermässig Alkohol oder konsumieren andere Drogen. Solch ein Fluchtverhalten ist für Egon Garstick ein sehr schlechtes Lösungsverhalten: «Ein Vater, der auf diese Art flüchtet, verursacht zwangsläufig Konflikte in der Familie. Es besteht die Gefahr der Entfremdung in der Paarbeziehung.» Stattdessen sollten sich Betroffene Hilfe holen. Wer etwas depressiv verstimmt sei, dem könne der Austausch mit anderen Vätern bereits helfen. Sind die Symptome stärker, ist professionelle Unterstützung gefragt: «Nicht selten helfen schon wenige Gespräche mit einem Therapeuten oder einem Väterberater weiter, die Verunsicherung aufzufangen und sich mit einer positiven Vaterrolle zu identifizieren.»
Einer, der weiss, wie wichtig es ist, sich rechtzeitig Hilfe zu holen, ist Jens Hermes. Die Geburt seines Kindes hat seine psychische Gesundheit aus dem Lot gebracht. Doch von vorn: Im Frühjahr 2021 wird seine Frau unerwartet schwanger. «Trotz der Überraschung freuten wir uns, denn wir hatten uns immer Kinder gewünscht», erzählt er. Die Schwangerschaft verläuft komplikationslos, sie bereiten sich intensiv auf die Geburt vor. Jens spricht viel mit seiner ungeborenen Tochter und nimmt über das Berühren des Bauches seiner Frau Kontakt mit ihr auf. «Wir hatten diese romantische Vorstellung einer Geburt im Geburtshaus und eines entspannten Starts ins Familienleben.» Doch es kommt anders. Nach zwei langen Tagen Wehen im Geburtshaus ist der Muttermund noch immer nicht komplett offen. Daher folgt die Verlegung in ein Regionalspital. Nach vielen weiteren Stunden und dem Einsatz einer Saugglocke kommt Jens' Tochter am 2. Januar 2022 zur Welt. Leblos. «Dieser Anblick war der Horror. Den werde ich nie vergessen», sagt der 41Jährige. Glück licherweise können die Ärzt:innen sie reanimieren, sie muss jedoch mit der Ambulanz in ein Kinderspital verlegt werden.
Nun steht Jens vor der Entscheidung: Bleibt er bei seiner Frau, der es nach der traumatischen Geburt physisch und psychisch sehr schlecht geht, oder fährt er seiner Tochter hinterher? Er ist hin und hergerissen, entschliesst sich jedoch, seiner Tochter zu folgen. In der kommenden Woche pendelt er zwischen den zwei Spitälern hin und her, kuschelt so oft wie möglich mit seiner Tochter, kümmert sich um seine Frau. «Ich habe tagsüber funktioniert, aber abends, als ich zu Hause war, habe ich Freunde angerufen und nur noch geweint», erinnert er sich. Seine Tochter ist zwar stabil, zunächst ist jedoch unklar, woran sie leidet. Nach vier Tagen stellt sich heraus, dass sie eine Blutvergiftung hat. Die Gabe eines Antibiotikums hilft.
Fünf Tage nach der Geburt geht es seiner Frau körperlich gut genug, um das Spital verlassen zu können. Psychisch ist sie jedoch am Boden.