Die Bindungsforschung hat gezeigt, dass Kinder, die sich während den ersten drei Jahren aufgehoben, geliebt und akzeptiert fühlen, später ein einfacheres Leben haben; es fällt ihnen leichter, sich in andere Menschen einzufühlen, sie können sich besser konzentrieren und sind in der Sprachentwicklung voraus. Frühe Trennungserfahrungen, die nicht gut gelaufen sind, hinterlassen Spuren, können massiven Stress und Angst auslösen und die Entwicklung des Kindes gefährden. Sensible Kinder sind besonders verletzlich. Trotz dieses Wissens gibt es in der Schweiz keine verbindlichen Regelungen, wie die Eingewöhnung in die Kita behutsamer und damit professioneller gestaltet werden kann. «Es besteht diesbezüglich grosser Entwicklungsbedarf», stellt Expertin Anna von Ditfurth diplomatisch fest.
Krippen, die das Qualitätslabel QualiKita tragen, und das sind gerade mal 60 Einrichtungen schweizweit, müssen bei der Eingewöhnung den QualiKita-Standard erfüllen. Dieser richtet sich nach dem Berliner Eingewöhnungsmodell, das allerdings nicht auf Babys, sondern auf Kinder ab zwei Jahren ausgelegt ist. Das «Berliner Modell» legt zum Beispiel fest, dass die ersten drei Kita-Tage in Anwesenheit der Mutter oder des Vaters direkt aufeinander folgen und frühestens am vierten Tag entschieden wird, ob das Kind für die erste Trennung parat ist. Alle anderen Kitas machen, wie ihnen beliebt.
Dabei würde es sich lohnen, deutlich weiter zu gehen, als QualiKita es vorschreibt. Die gemeindeeigene Kinderkrippe Suntenwiese in Rüschlikon ZH zeigts: «Bei uns dauert die gesamte Übertrittsphase rund sechs Wochen, vor der dritten Woche wird kein Trennungsversuch unternommen», sagt Simone Strupler, pädagogische Leiterin der Kita seit 17 Jahren. Und fügt an: «Wer nicht bereit ist, so viel Zeit aufzuwenden, kann sein Kind nicht zu uns bringen, Konzessionen machen wir keine.»
Die Suntenwiese arbeitet seit 2011 nach dem «Zürcher Modell zur Gestaltung von Übergängen» (siehe Box), das von Anna von Ditfurth entwickelt und in Rüschlikon erstmalig umgesetzt wurde. Der Wechsel zum «Zürcher Modell» ist sozusagen aus der Not geboren: «Wir haben alles getan, was wir konnten, um die Trennungsängste der Kinder zu mildern, aber es war nicht genug«, sagt Simone Strupler über die Zeit vor 2011. Belastend für alle Beteiligten, ganz besonders aber auch für das Personal sei das untröstliche Weinen beim Abschied von Vater oder Mutter gewesen. Für Anna von Ditfurth kein Wunder: «Ein weinendes Baby kann nur trösten, wer wirklich vertraut ist mit ihm. Versucht es eine Person, zu der das Baby keine Bindung hat, reagiert es mit noch mehr Stress. » Ein Teufelskreis. Je nach Temperament des Kleinkindes brüllt es, bis es – früher oder später - resigniert. Stress pur auch für das Krippenpersonal, das in dieser Situation Ohnmacht empfindet. Die starken Gefühle müssen unterdrückt werden. Wer das nicht schafft leidet. «Mit ein Grund für die hohe Ausstiegsrate aus dem Beruf», ist von Ditfurth überzeugt.
In der Suntenwiese ist man glücklich mit der Umstellung auf das «Zürcher Modell». «Der Krippenalltag ist deutlich ruhiger geworden», sagt Leiterin Simone Strupler, «auch wenn die Planung eines Neueintritts eine Herausforderung ist und die lange Präsenzzeit der Eltern zu Beginn auch für das Personal ungewohnt war.» Zudem zeigte sich, was Untersuchungen an andern Kitas schon vor vielen Jahren ergaben: Kinder, denen genug Zeit gegeben wird für den Übertritt, sind im ersten halben Jahr seltener und kürzer krank. Und: Sie schlafen sich in den Krippen weniger „weg“ vor Erschöpfung. «Das ist ein gutes Zeichen, denn es bedeutet, dass sie weniger Stress verarbeiten müssen», so Strupler. Und: Das Zürcher Modell scheint Schule zu machen. Im Raum Zürich sowie in Basel haben es bereits weitere Kitas übernommen. Anna von Ditfurth gibt Weiterbildungen fürs Kita-Personal und spricht an Fachtagungen.
Auch die Eltern sind begeistert. «Durch den zweiwöchigen gemeinsamen Aufenthalt zu Beginn bekommt man einen guten Einblick in den Kita-Alltag », sagt Marit Kruthoff (35), deren Sohn Finn (5) fast vier Jahre in die Suntenwiese ging; seit dem Sommer ist auch Tochter Lily, die mittlerweile eins ist, dort. «Man sieht, wie die Mitarbeiter mit den Kindern und miteinander umgehen, lernt die Tagesstruktur und die anderen Kinder kennen. Das schafft viel Vertrauen.» Und helfe, sich weniger als Rabenmutter zu fühlen, wenn man das Kind schon so früh fremdbetreuen lasse. «Klar gab es zu Beginn manchmal Tränen, wenn ich ging, aber ich wusste, dass die Kinder sich schnell von ihrer Bezugsperson trösten lassen. Ich bin überzeugt, dass diese Erfahrung das Grundvertrauen der Kinder gestärkt hat.»
8.3.2017