Übungsphase Kindheit
So unterschiedlich die Lebenswelten und der Alltag dieser vier Familien sind, haben sie eines doch gemeinsam: Alle wollen ihren Nachwuchs früh fördern. Eine engagierte Betreuung, das Gruppenerlebnis mit Gleichaltrigen und abwechslungsreiche Spielmöglichkeiten sollen dafür sorgen, dass die Kleinen sich uneingeschränkt entfalten können. Dahinter steckt mehr als die Umsetzung erzieherischer Ideale: Die Eltern hoffen, auf diese Weise auch das Bildungspotenzial ihrer Kinder zu erschliessen und damit ihre Chancen auf späteren Bildungs- und sogar Berufserfolg zu erhöhen. «Frühkindliche Bildung» heisst die Losung der Zeit. «Es wird zunehmend erkannt», sagt die Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm von der Universität Fribourg, «dass die frühe Kindheit ein besonders bedeutsamer Lebensabschnitt darstellt. » In dieser Phase erwerbe ein Kind Eigenschaften wie Erkundungsdrang, Neugier, Motivation oder Selbstvertrauen, «die für das spätere Lernverhalten und damit den Schulerfolg grundlegend sind».
Bildungspanik?
Mit dieser Erkenntnis verschieben sich die Erziehungsansprüche, insbesondere bei der familienergänzenden Kinderbetreuung: Nachdem jahrelang mehr Krippenplätze gefordert und auch geschaffen wurden, dreht sich heute in den Kitas alles um die Qualität. Eine neue «Erziehungs- und Bildungspartnerschaft zwischen Familien und Tageseinrichtungen » sei nötig, stellen Fachleute fest. Heute reicht es nicht mehr, wenn eine Kita helle Räume und einen grossen Garten hat, die Betreuerinnen nette Gruppenrituale veranstalten und die Köchin gesunde Kindermenüs zubereitet. «Heute besteht die Herausforderung darin, Kinder nicht nur zu betreuen und erziehen, sondern vor allem auch zu fördern und bilden», sagt Margrit Stamm.
Was das genau bedeutet? Bei dieser Frage gehen die Meinungen auseinander. Manche Eltern verstehen unter «Frühförderung», wenn ihren Kindern mit schulmässigen Methoden möglichst früh möglichst viel in den Kopf gepackt wird. Das ABC und Einmaleins schon mit drei Jahren – warum nicht? Der Markt ist riesig, auf dem leistungsorientierte Eltern für ihren Nachwuchs Frühenglisch, musikalische Früherziehung oder Baby Signing in Anspruch nehmen können. «Bildungspanik » nennt Margrit Stamm diese elterliche Haltung – die Angst der Gutsituierten vor dem Scheitern. Wobei die Zeichen der Zeit ihnen recht zu geben scheinen: So will der neue Rektor der ETH Zürich, Lino Guzzella, strengere Maturaprüfungen und mehr Leistungs- und Elitedenken auch an den Volksschulen. Und der Schweizer Wissenschafts- und Technologierat SWR verkündet, eine effiziente und nachhaltige Nachwuchsförderung müsse bei der frühkindlichen Bildung ansetzen.
Was aber ist Frühförderung, die auch wirklich dem Entwicklungsstand von Kindern entspricht? Für Leitplanken sorgt seit Kurzem der «Orientierungsrahmen für frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung in der Schweiz», den die Schweizerische Unesco-Kommission und das Netzwerk Kinderbetreuung veröffentlicht haben. Das 70 Seiten starke Werk, ausgearbeitet vom Marie Meierhofer Institut für das Kind (MMI), orientiert sich an der Entwicklungspsychologie: Es will Wissen vermitteln, wie kleine Kinder die Welt entdecken, unter welchen Voraussetzungen sie ihr Potenzial entwickeln und wie Erwachsene sie dabei begleiten können. Dabei gehe es weniger um späteren Leistungserfolg, sondern erst einmal um die Wahrung von Rechten, betont Heinz Altorfer von der Schweizerischen Unesco-Kommission. «Kinder haben ein Recht auf Bildung – nicht erst ab Schuleintritt.» So stehe es auch in der Uno-Kinderrechtskonvention, welche die Schweiz 1997 ratifiziert habe. Unbestritten ist: Das Bild von kleinen Kindern hat sich durch die Forschungsergebnisse der jüngeren Zeit diametral verändert. Kleine Kinder sind nicht die hilflosen, unbedarften und mutterzentrierten Wesen, als die sie früher angesehen wurden. «Heute weiss man, dass sich Kinder von Geburt an kompetent und bildungshungrig der Welt stellen, indem sie versuchen, mit all ihrer Energie und all ihren Sinnen die Welt um sie herum zu verstehen und entsprechend zu handeln», sagt die Entwicklungspsychologin Heidi Simoni, Leiterin des MMI und Mitautorin des «Orientierungsrahmens ». Das bestätigt auch die Hirnforschung. «Nie wieder im Leben ist ein Mensch so offen für neue Erfahrungen, so neugierig, begeisterungsfähig, lerneifrig und kreativ wie während der Phase der frühen Kindheit», sagt der deutsche Entwicklungsneurobiologe Gerald Hüther. Durch frühes Lernen werden im Gehirn entscheidende Verbindungen und Netzwerke angelegt, die viele Kompetenzen für das spätere Leben vorspuren.
Kein Wunder also, stösst der «Orientierungsrahmen » auf breites Interesse. «Wir bekommen von vielen Seiten aus der Praxis positive Signale», sagt Heidi Simoni. «Offenbar ist es uns gelungen, für die Ausgestaltung der Bildungs- und Erziehungsarbeit mit kleinen Kindern einen gemeinsamen, verbindlichen Rahmen zu setzen.»
Manche Kitas pflegen das verstärkte Lernen schon länger. In diesen Bildungskitas stehen sogenannte Lerngeschichten im Zentrum: Die Pädagoginnen konzentrieren sich auf das genaue Beobachten eines Kinds – woran ist das Kind im Moment, wofür interessiert es sich besonders? –, anschliessend halten sie ihre Beobachtungen schriftlich fest.
Die «Kita Kunterbunt» in Muri bei Bern ist eine solche Bildungskita. Das geräumige, direkt am Waldrand gelegene Haus existiert seit 1951 als Kinderkrippe. Dazu gehört ein grosses Gelände mit diversen Spielgeräten und Sandgruben, die erahnen lassen, dass hier auf Aktivitäten an der frischen Luft viel Wert gelegt wird. Kita-Leiter René Baumgartner sagt, er habe seine Tagesstätte nie als Hütedienst, sondern immer schon als Bildungsinstitution verstanden. «Doch im Gegensatz zu vorher haben wir jetzt die Werkzeuge dazu», sagt Baumgartner.