Die Zeit ist also reif, im Zusammenleben mit Kindern andere, friedlichere und freiheitlichere Wege zu gehen. «Eltern-Kind-Beziehungen sind wärmer geworden», sagt Weingartner. «Viele Eltern erkennen, dass das ständige Schimpfen und Strafen auch ihnen selbst Energie raubt. Ein Vater sagte in einem Kurs: ‹Ich habe mein Kind gehauen und meine Hand brennt immer noch.›» Eltern möchten es anders machen. Doch was braucht es, damit Erziehung ohne Strafen möglich wird?
Eine Grundvoraussetzung dafür ist, so der dänische Familientherapeut und Bestsellerautor Jesper Juul, dass wir Kinder als gleichwürdige Wesen wahrnehmen, deren Wünsche, Anschauungen und Bedürfnisse wir ebenso ernst nehmen wie die der Erwachsenen. In einem solchen Menschenbild wird das Kind nicht mehr nach den Vorstellungen und Wünschen von Eltern oder der Gesellschaft geformt, sondern erhält die Möglichkeit, es selbst zu sein – und zu werden. Juul geht davon aus, dass das Kind von Geburt an sozial und emotional ebenso kompetent ist wie ein Erwachsener: «Diese Kompetenz, die sich entsprechend der kindlichen Reife äussert, muss ihm nicht erst durch Erziehung, durch die Eltern oder durch Institutionen beigebracht werden.»
Nötig ist ein Perspektivenwechsel. Offenheit und der Wille, das Kind zu sehen, wie es ist, und es zu verstehen. Gerade auch dann, wenn es sich nicht wie das fügsame und artige Musterkind verhält, das wir uns manchmal wünschten, weil es so praktisch wäre. In solch herausfordernden Momenten hilft es zu wissen, dass bei Babys und Kleinkindern das emotionale Gehirn dominiert. Der Grund: Das limbische System, das für überlebensnotwendige Reaktionen wie Wut, Freude, Trauer und Schmerz verantwortlich ist, reift früher und deutlich vor den Hirnbereichen, die für kognitives Verständnis und Vernunft massgeblich sind. Deshalb erreichen wir Babys und Kleinkinder in Stresssituationen viel eher über das Gefühl als über die Vernunft.
«Hilfreich ist das aktive Zuhören», sagt die Pädagogin Helena Weingartner. Dabei werden die Situation und das Verhalten des Kindes sowie seine Äusserungen benannt. Etwa: «Gell, du hättest die Schoggi jetzt gerne gegessen, aber ich sage Nein. Das macht dich total wütend.» Natürlich wird das Kind nicht sofort verständnisvoll nicken, sondern wohl eher weiter temperamentvoll nach der Schoggi verlangen. Die Eltern zeigen ihm mit dieser Reaktion, dass sie mitfühlen und stehen gleichzeitig zu ihrer Entscheidung; wesentlich ist, dass das Nein nicht böse oder voller Ärger gesagt wird. Für die emotionale Entwicklung des Kindes ist eine solche Begleitung aus zwei Gründen wichtig: Es lernt, dass seine Gefühle in Ordnung sind und dass es auch in schwierigen Momenten nicht allein ist, sondern sich auf die Eltern verlassen kann.
«Es lohnt sich, hinter das Verhalten des Kindes zu schauen», ist die Buchautorin Katharina Saalfrank überzeugt und betont, dass nicht nur ein Umdenken nötig ist, sondern, noch wichtiger ein Umfühlen: «Wenn wir anders fühlen und denken, können wir auch Handlungsalternativen finden und uns aus bisherigen Mustern befreien», sagt Saalfrank. Das gelingt allerdings nicht von heute auf morgen. Wer in der eigenen Kindheit nicht gesehen worden ist mit seinen Bedürfnissen, wird später als Eltern die Erfahrung machen, dass die eigenen Kinder genau diese unverarbeiteten Gefühle triggern. Das geschieht immer dann, wenn wir uns hilf- und machtlos fühlen angesichts des Verhaltens unserer Kinder oder uns eine irrationale Wut überfällt. Das zornige kleine Kind vor uns trifft dann auf das verletzte innere Kind in uns. Gleichzeitig ist dies unsere Chance, alte Wunden zu heilen und als Persönlichkeit emotional zu wachsen. «Kaum etwas wird so geprägt durch den eigenen Rucksack wie das Elternsein», sagt Weingartner. «Wenn wir merken, dass wir immer wieder in alte Muster verfallen, sollten wir nicht zögern, fachliche Hilfe und Unterstützung in Anspruch zu nehmen.»
Denn im Alltag mit Kindern braucht es viel Rückgrat und Haltung. Erziehen ohne Strafen bedeutet nämlich nicht, dass wir die Kinder sich selbst überlassen oder uns im antiautoritären Laissez-faire-Stil zurücklehnen. «Kinder brauchen unsere ganze Präsenz, unseren Mut und unsere Bereitschaft, hinzustehen und ‹so nicht!› zu sagen, wenn es nötig ist», sagt Weingartner.