Einen Monat später sind wir in der Entwicklungspädiatrie des Kinderspitals Zürich. Die Oberärztin macht in meinen Augen fast identische Tests und kommt zu fast identischen Ergebnissen. Entwicklungsrückstand. Immerhin: «Wir haben Ronja als sehr zugängliches, interessiertes Mädchen mit sehr schöner sozialer Interaktionsfähigkeit kennengelernt », steht im Rapport. Und ausserdem: «Erklimmen von Treppenstufen in krabbelnder Weise», «Muskeltonus passiv im Bereich Extremitäten», «soweit palpierbar keine Organomegalien palpabel».
Dr. Google macht Angst
Aha. Der auffällig starke Speichelfluss, der fast ständig offene Mund, das verzögerte Laufen – alles typisch für passive Muskelspannung sprich muskuläre Hypotonie. Zumindest mal etwas Handfestes. Ich tue das, was kein Mensch jemals tun sollte, wenn es um medizinische Begriffe geht: Ich google. «Nicht selten tritt eine Muskelhypotonie in Kombination mit Entwicklungsstörungen auf, die das Zentralnervensystem betreffen », heisst es irgendwo im Netz, «sie kann erstes Zeichen einer später deutlichen (geistigen) Behinderung sein.» Ich schlucke leer. Ausserdem wird Muskelhypotonie auch im Zusammenhang mit Herzfehlern, Lungenund Darmkrankheiten oder Tumoren beobachtet. Na herzlichen Dank, Internet!
Doch halt, was steht da noch: «Von benigner Hypotonie spricht man, wenn sich keine sonstigen Symptome finden und die Entwicklung des Kindes weitgehend normal verläuft.» Das läuft unter «Variante der Normalentwicklung » und hat eine «günstige Prognose». Fassen wir zusammen: Es kann ganz schrecklich sein, was Ronja hat. Oder aber überhaupt nichts. Gut möglich, dass sich ihr Rückstand auswächst, dass sie aufholt und später keinerlei Anzeichen dafür mehr aufweist, dass sie einst hinterherhinkte. Kann sein, dass sie auf ihrem derzeitigen geistigen Niveau stagniert und keine weiteren Fortschritte mehr macht. Kann sein, dass sie später eingeschult werden muss, dass sie immer schulische Probleme haben wird oder sich stets nur ungelenk wird bewegen können. Alles kann, nichts muss. Diese Ambivalenz ist fast nicht auszuhalten. Manchmal, wenn ich Ronja ansehe, bin ich der festen Überzeugung, dass mit ihr alles in Ordnung ist. Und dann, tags darauf, fingert sie schon die dritte Traube am Mund vorbei und ich denke: Mist, da stimmt doch etwas nicht.
Wir sind beim Kinderarzt zur Zweijahreskontrolle. Er, der immer einfühlsam und wohlwollend ist, findet klare Worte. Ronja habe zwar Fortschritte gemacht, der Abstand auf Gleichaltrige sei damit aber nicht kleiner geworden. Auf Spekulationen lässt er sich natürlich nicht ein, sagt nur, wahrscheinlich, um mir Mut zu machen: «Bestenfalls hat sie später mehr Mühe als andere, Tanzschritte einzuüben.» Ausserdem hätten 50 Prozent solcher Fälle kein Label, sprich keine klare Diagnose. Es wird nun immer offensichtlicher, dass sich Ronja nicht an das typische Entwicklungsschema hält. Vom Spielverhalten sollte sie sich schon in der Phase befinden, in der sie Klötze stapelt oder aneinanderreiht. Stattdessen ist sie noch in der Einund Ausräumphase. Dafür konnte sie schon extrem früh mit der Zunge schnalzen und eine Weile lang absichtlich Blasen mit ihrem Speichel machen, das scheint mir aussergewöhnlich. Auch hält sie sich schon seit mehr als einem Jahr alles wie ein Telefon ans Ohr: Stifte, Puppen, Taschenrechner. Hielte man von Abklärungen nicht viel, würde man wohl sagen, sie sei einfach etwas speziell.