Nackte Füsse tappen durch die Nacht. Kleine, grosse, schlaftrunkene, taumelnde. Hunderte von Stunden wandern kleine Menschen in der Stille der Nacht über Holz- und Plattenböden, um bei Mama und Papa unter die Decke zu schlüpfen, Eltern, um Babys zu füttern, in den Schlaf zu wiegen, zu trösten, Lieder zu summen. Manchmal mit Verständnis und Geduld, oft übermüdet und genervt. Manchmal geht das ein paar Wochen so, manchmal Monate, Jahre. Unser Schlaf wird gestört und unterbrochen. Ausgeruht, ausgeschlafen, körperliches Wohlbefinden nach geruhsamem Schlaf, das war gestern. Bevor man Kinder hatte.
Ein Hippie-Ding?
Muss das sein? Auch wir fragten uns das, nach drei Babys, die wir im Abstand von einigen Jahren durch dunkle Nächte wiegten, für sie summten, säuselten, sie ernährten. Zu denen wir – kaum hatten wir uns auf leisen Socken aus dem Zimmer geschlichen – resigniert und am Rande des Wahnsinns an die Bettchen zurückkehrten, um sie von Neuem zu beruhigen, zu streicheln, zu schmusen, weil sie wieder zu weinen angefangen hatten. Nochmal solche Strapazen zu durchleben, darauf hatten wir wenig Lust. Darum sprangen wir beim vierten Baby über kulturelle Schatten und Gräben. Und weil der Baby-Papa nur schlecht zu dritt oder mehr in einem Bett schlafen konnte, quartierte ich mich aus dem Paarbett aus und richtete im Gästezimmer ein Familiennest ein, mit einer schlichten Matratze auf dem Boden. Wir pfiffen auf die Meinung von Bekannten und Freunden, kümmerten uns keinen Deut um schräge Blicke und Augenrollen, auch nicht um warnende Worte, das Baby könnte allzu verwöhnt werden.
Ich gebe zu, ich schlafe wie eine Bärin, darum störten mich weder die Fusstritte noch das nächtliche Herumwälzen des kleinen Menschleins. Jede Nacht umfasste ich seine Füsschen und so schlummerte ich ein. Unser Baby schlief keineswegs nach ein paar Wochen durch. Nur hielten sich die nächtlichen Aktivitäten sehr in Grenzen. Ich merkte oft kaum, wenn ich das Shirt hob, um die Kleine zu stillen. Sie trank und schlief danach wieder ein. Durchwanderte Nächte waren weitgehend passé, ausser sie war krank oder hatte eine unruhige Nacht. Und nicht selten schlüpfte das eine oder andere Kind auch noch zu uns ins Nest. Kreuz und quer lagen wir in unserem Kuschellager. So, wie es die Menschheit Millionen von Jahren getan hat – und anderswo immer noch tut. Doch in unserer westlichen Kultur ist das verpönt. Das Familienbett ist ein Hippie-Ding, Gegner schreien laut Verwöhnung und Verweichlichung. Und überhaupt: Wo bleibt da das Liebesleben? Der Sex?
Klar ist es Geschmackssache. Nicht alle Mütter und Väter wollen ihr Bett mit dem Nachwuchs teilen oder die Nächte ohne ihren Partner verbringen. Manchmal sind sich die Paare auch nicht einig. Letztendlich gilt: Eltern müssen ihren eigenen Weg finden. Hauptsache, es stimmt für alle.
Doch warum überhaupt ist es in der westlichen Kultur so wichtig, dass schon Babys in ihren eigenen Betten schlafen lernen? Schauen wir kurz zurück: Das Schlafen in der Gemeinschaft entspricht der Natur des Lebewesens Mensch seit Millionen von Jahren. In der gesamten Geschichte der menschlichen Entwicklung haben Kinder immer bei den Eltern gelegen. Auf Stroh- und Blätterlagen, einfachen Matratzen auf Steinböden, Wolldecken, in Hängematten. Noch bis vor etwa 150 Jahren schlief kein Kind alleine in einem Bett, geschweige denn allein in einem Raum. Noch bis vor etwa 80 Jahren lagen oft mehrere Geschwister im selben Bett. Selbst beim reichen Adel hat im separaten Kinderzimmer immer die Amme mitgeschlafen.
«Auch bloss ein Tier»
Mit der fortschreitenden Industrialisierung der westlichen Länder, der Veränderung des Lebensrhythmus und Arbeitsstils entstand eine neue Wohnkultur. Das Kinderzimmer wurde erschaffen. Heute modern und hübsch eingerichtet nach dem Geschmack der Eltern, mit fröhlich gestrichenen Wänden, voll bepackt mit Spielsachen, ausgestattet mit teuren Möbeln, hippen Kinderbetten und hochwertigen Matratzen. Die Eltern begannen, mehrere Stunden tagsüber und in der Nacht die Babys allein schlafen zu legen.
150 Jahre sind eine minimale Zeitspanne gemessen an der Dauer der Menschheitsgeschichte. Sie hat auch noch längst nicht in allen Kulturen Einzug gehalten. Nach wie vor schlafen Millionen von Säuglingen und Kleinkindern in engem Körperkontakt mit Eltern oder anderen Angehörigen. Feste Schlafenszeiten für Kinder? Babys, die ganze Nächte durchschlafen? Stellt man solche Fragen Müttern in Indien oder Südamerika, schauen sie irritiert. Während wir unsere Säuglinge aufs Durchschlafen ab sechs Monaten trimmen wollen, erwarten Eltern in anderen Kulturkreisen dasselbe von Kindern ab drei bis fünf Jahren. Bei uns schiessen Schlaflabors wie Pilze aus dem Boden, dort hat man von kindlichen Schlafstörungen noch nie gehört.
«Ich verstehe gar nicht, warum ihr Psychologen für so eine Sache wissenschaftliche Bücher braucht. Ich muss bloss in den Stall rausgehen und schauen, wie das kleine Schaf mit dem Kopf auf dem Bauch vom Mutterschaf liegt und schläft, dann weiss ich, wies geht. Der Mensch ist doch auch bloss ein Tier.» Dies sagte ein einfacher Bauer aus einem Dorf in Deutschland dem Psychotherapeuten Stephan Mayer aus Passau nach einem seiner Vorträge. «Und ich denke, er hat recht. Dass Kinder bei den Eltern schlafen wollen, ist eine Sache des Instinkts», sagt Mayer. Und es sei wichtig für die seelische Geborgenheit. «Dürfen sie es nicht, entstehen Verlassensund bei Neugeborenen gar Todesängste», so Mayer.
Das unsichtbare Band
Wie schön wäre es doch, wenn müde Babys das Bedürfnis nach Alleinsein hätten. Doch das Gegenteil ist der Fall: «Müde Babys verlangen meist nach Gesellschaft und werden nähebedürftig», schreiben Nora Imlau und Herbert Renz-Polster in ihrem Buch «Schlaf gut, Baby». Werden sie dabei nun allein gelassen, wird das Bindungssystem, ein unsichtbares Gummiband, aktiviert, ein uraltes Hochsicherheitsprogramm, das Alarm schlägt. Das Baby beginnt lauthals zu schreien und organisiert sich so Begleitschutz. «Denn zur Zeit der Jäger und Sammler hat ein solch leckeres Menschengeschöpf tatsächlich nur überlebt, wenn nette Menschen aus Fleisch und Blut bei Bedarf alles stehen und liegen gelassen haben, um es zu beschützen», so die Autoren. Andernfalls wäre es ganz schnell ein totes Baby gewesen, von Tieren verschleppt oder von nächtlichen Temperaturstürzen unterkühlt. Heute leben wir weit ab von gefährlichen Tieren. Feuermelder und Babyphone machen unser Leben sicher. Nur: Die alten Programme sind dadurch nicht überschrieben worden, sie wirken weiter. Unser Gefühlskleid, mit dem wir zur Welt kommen, bleibt uralt.