Dürfen wir das? Seit mit Louise Brown 1978 erstmals ein Kind auf die Welt gekommen ist, das nicht durch Koitus, sondern dank der Experimenttierfreude eines britischen Gynäkologen entstanden ist, beschäftigt uns diese Frage: Ist es rechtens, derart in den Lauf der Natur einzugreifen? Was Gynäkologe Patrick Steptoe vor bald 40 Jahren mit Mr. und Mrs. Browns Keimzellen angestellt hat, mutet jedoch aus heutiger Sicht geradezu unschuldig an: Er gab Eizelle und Samenzelle in eine Petrischale mit Nährlösung und wartete, bis sie sich vereinigten.
Die Wissenschaft ist seither in Siebenmeilenstiefeln vorwärtsgestürmt, hat das neue Terrain in allen Facetten exploriert und erweitert, ist kaum zu stoppen. Samenspende, Eizellspende, Leihmutterschaft, Embryo-Adoption, Retterbabys, Social-Egg-Freezing , embryonale Stammzellenforschung, Genom-Test am Embryo – der Angebotskatalog der Fortpflanzungsmediziner wächst unaufhaltbar. Ergo muss sich die Politik immer wieder aufs Neue damit auseinandersetzen, was erlaubt sein soll und der Gesellschaft zugemutet werden kann. Es gilt, den Positionen von Ethik und Wissenschaft, die nicht weiter auseinanderliegen könnten, Rechnung zu tragen.
Leben auf Probe
Ein Balanceakt, dessen sind sich alle bewusst. Im Herbst 2014 berät das Parlament, wie viel Präimplantationsdiagnostik in Zukunft erlaubt sein soll. «Wir wünschen mit dem Chromosomen-Screening nichts anderes, als was die Pränataldiagnostik in der Schwangerschaft bereits darf», sagt Christian De Geyter, Reproduktionsmediziner am Universitätsspital Basel. «Das Ziel ist, unnötige Schwangerschaftsabbrüche zu vermeiden und die Erfolgsrate der künstlichen Befruchtung zu verbessern.» Tatsächlich scheint es nicht logisch, dass ein Embryo, der längst ein schlagendes Herz besitzt, bis zur 12. Schwangerschaftswoche indikationslos abgetrieben werden kann – und auch später noch, sofern sich die Frau in einer Notlage befindet. «Wir wehren uns dagegen, dass ein fünf Tage alter Embryo schützenswerter ist als der mehrere Wochen alte Embryo», sagt De Geyter.
Klar ist: Das eine ist vom andern kaum zu trennen. Und so geht es den Gegnern der Präimplantationsdiagnostik fast immer auch um die Pränataldiagnostik. Und damit um ihr grundsätzliches Missbehagen, ein Leben auf Probe zu zeugen, es einer Qualitätsprüfung zu unterziehen und aufgrund der Resultate zu entscheiden, ob man es will oder nicht. «Es ist eine Infragestellung der bedingungslosen Annahme des Lebens», sagt der deutsche Medizin-Ethiker Giovanni Maio. «Es verändert uns, wenn wir das Kind nicht mehr als Geschenk hinnehmen, sondern von ihm bereits etwas erwarten – gesund zu sein.» Und uns fragen: Will ich genau dieses Kind? Oder nicht vielleicht doch ein anderes? Maio nennt die vorgeburtliche Selektion eine «subtile Form von Eugenik» und regt an, darüber nachzudenken, ob es uns guttue, eine Gesellschaft aufzugleisen, die dies gutheisst. Wären wir ehrlich, meint Maio, müssten wir dem Kind sagen: Du bist das zweite. Das erste haben wir aussortiert. «Das Kind kann daraus schliessen, dass es nur lebt, weil es keine Behinderung hat. Was aber, wenn es heute verunfallt und für den Rest des Lebens behindert sein wird?», fragt Maio.
Hauptsache gesund?
Kritiker der Präimplantationsdiagnostik befürchten zudem, dass die Selektion zur Regel wird. Ein Zusammenschluss von 19 Behindertenverbänden, Ethik- und Frauenorganisationen fordert deshalb ein Verbot des Chromosomen-Screenings. «Krankheiten und Behinderungen sind Teil des Lebens, sie bestimmen nicht seinen Wert», steht im Appell. Auch Giovanni Maio glaubt, dass die soziale Erwartung an die schwangere Frau, die Test-Angebote zu nutzen und ein gesundes Kind zu gebären, weiter zunehmen wird. Schon jetzt stünden Eltern mit einem behinderten Kind unter zunehmendem Rechtfertigungszwang – der Gesellschaft und den Krankenkassen gegenüber. In seinem eben erschienenen Buch «Medizin ohne Mass» plädiert Giovanni Maio deshalb für eine Ethik der Besonnenheit: «Wir müssen aufpassen, dass wir nicht in einen Machbarkeitssog geraten.» Eltern sollen sich damit auseinandersetzen können, wie das Leben mit einem behinderten Kind wäre, bevor sie sich im vierten oder fünften Monat nach einer auffälligen Diagnose für oder gegen das Kind entscheiden. «Eine Frau ist in der Schwangerschaft sehr verletzlich. Sie gerät mit einer solchen Entscheidung in eine existenzielle Krise», so Maio.
Ein Leben ausgelöscht zu haben, das lebensfähig wäre, jedoch nicht unseren Massstäben von normal oder gesund entspricht, quält viele Frauen ein Leben lang. «Manche Ärzte tun so, als wäre es besser für ein behindertes Kind, nicht zu leben», sagt Maio, «doch nur in seltenen Fällen leiden diese Menschen.» Allerdings sehen sich Gynäkologen immer öfter mit Schadensersatzforderungen von Eltern konfrontiert, wenn das Kind bei der Geburt grössere Defizite aufweist, als pränatal diagnostiziert. Eine Abtreibung bewahrt davor.
Es gibt auch die entgegengesetzte Strömung: Laut Bundesamt für Statistik hat sich die Zahl der Trisomie-21-Geborenen innerhalb von zehn Jahren mehr als verdoppelt. 2003 kamen 40 von 71 848 Neugeborenen mit dem Down-Syndrom auf die Welt, 2012 bereits 89 von 82 164. Daniel Surbek, Gynäkologe und Chefarzt des Inselspitals Bern, vermutete in der «Aargauer Zeitung», dass Frauen zunehmend bereit seien, Kinder mit Trisomie 21 zu akzeptieren. Auch nach Fertilitätsbehandlungen verzichten manche werdende Eltern bewusst auf die Pränataldiagnostik. «Ich höre täglich von Paaren, dass sie sich derart freuen, endlich ein Kind zu erwarten, dass sie nehmen wollen, was kommt», sagt De Geyter. Etwa ein Drittel entscheide so, schätzt der Fortpflanzungsspezialist.
Was also sollen wir dürfen?
Es geht um unsere Haltung dem ungeborenen Leben gegenüber, dem Leben überhaupt. Als Individuum und als Gesellschaft. Denn die Fortpflanzungsmedizin wird auch weiterhin mehr können und mehr wollen, als erlaubt ist. Ein Vorstoss, der die Eizellspende zulassen will, ist bereits lanciert – wenn die Samenspende erlaubt ist, wieso nicht auch die Eizellspende? Über kurz oder lang wird auch die Legalisierung der Leihmutterschaft zur Debatte stehen.
Wer sich dafür entscheidet, muss sich bewusst sein: «Ein Kind, dessen Gene nicht von der Frau stammen, in deren Bauch es heranwächst, wird neuartige Identitätskonflikte zu bewältigen haben», sagt Giovanni Maio. Schliesslich, so der aktuelle Stand der Wissenschaft, sind Gene nicht nur durch Vererbung bestimmt, sondern ebenfalls durch die Epigenetik, also durch das direkte Umfeld des mütterlichen Organismus. Eine derart dissoziierte oder aufgespaltene Herkunft ist eine Herausforderung. «Der Mensch hat Potenzial», ist Maio überzeugt, «er kann mit vielem fertig werden, aber oft braucht er Unterstützung.» Das bedeutet: Wenn Staat und Gesellschaft sich entscheiden, solches zu ermöglichen, müssen sie auch bereit sein, den nötigen Beistand zu gewährleisten.
Interview mit Gynäkologe Christian De Geyter
Der Gynäkologe Christian De Geyter ist Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Reproduktionsmedizin.
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