Verdrängtes Schweigen
Wie sich die Beziehung unter den Kindern entwickelt, hängt laut Fachleuten primär vom Verhalten der Eltern ab. Es braucht viel Feingefühl für das ältere Kind, wenn ein Geschwister geboren wird. Psychologe Marcel Rufo setzt auf Zuwendungen und Liebe: Schwierigem Verhalten kann man ganz einfach mit Zuhören, viel Nähe, Kuscheln und viel Zärtlichkeit begegnen, denn alles was das Kind will und braucht, ist die Vergewisserung, dass die Eltern es noch immer lieben. Der dänische Therapeut und Autor Jesper Juul sagt in der «Zeit», dass in solchen Situationen am besten der Vater das grosse
Kind erreichen kann. «Er kann nun, ein Mal nur, seinem älteren Kind sagen: Es ist ja wunderbar mit diesem kleinen Bruder, aber mein Gott, es ist auch anstrengend, findest du nicht? Für dich muss es doch auch seltsam sein, dass er plötzlich da ist. Mich stört es auch, dass Mama so viel Zeit mit dem Baby verbringt. Aber ich denke, wir gewöhnen uns daran.» Kommen diese Worte von Herzen, dann wirken sie oft Wunder, so der Däne. «Wenn die grossen Kinder sich verstanden fühlen, wenn sie lernen, dass sie sich mit ihren Gefühlen an die Erwachsenen wenden dürfen, dann hören sie innert ein paar Wochen auf mit dieser Gewalt, mit dieser Eifersucht, die in Wirklichkeit Trauer ist. Und in jeder Trauer gibt es Aggressivität».
Auch für Marcel Rufo ist das Recht auf Gefühlsäusserungen wichtig: «Aus tiefster Überzeugung rate ich Eltern, das Kind äussern zu lassen, was es auf dem Herzen hat. Denn wird Eifersucht zu streng bestraft oder reagieren die Eltern mit Ablehnung oder Liebesentzug, kann es dazu führen, dass das Kind seine Gefühle verheimlicht, um von der Zuneigung und Geborgenheit der Eltern nicht ausgeschlossen zu werden », sagt Marcel Rufo. Das werde aber eines Tages zwangsläufig zu einem heftigeren Ausbruch führen.
Ein Lob der Eifersucht
Es wäre nun allerdings ungerecht zu denken, dass nur das erstgeborene Kind eifersüchtig ist», schreibt Rufo. Auch das jüngere Kind hegt Neidgefühle. Das grössere Kind kann immer alles schon, was das kleinere erst noch lernen muss: schneller rennen, besser Radfahren, eher lesen, darf später ins Bett, ist sowieso stärker und gewinnt bei Spielen. Dazu schreibt Marcel Rufo unter «Ein Lob auf die Eifersucht»: «Die Eifersucht ist der Mörtel des Narzissmus, der Ursprung jeglichen Wettbewerbs. Durch sie entwickeln wir uns erst selbst. Der Eifersüchtige leidet unter dem Erfolg des anderen und will es ihm gleichtun, ihn sogar überflügeln. Er will der Beste werden, der Beste von allen.» Der grosse Bruder, die Schwester, spielen bei der Herausbildung der eigenen Persönlichkeit eine wichtige Rolle, die weit über den Kampf um Mutterund Vaterliebe herausgeht. Und auch hier sind die Eltern gefragt: Geschwister nicht vergleichen, nicht Schwächen gegeneinander ausspielen, sondern die individuellen Stärken der Kinder loben. Denn sicherlich hat jedes Kind Nischen, in denen es brillieren kann, egal, ob es super im Klettern oder klasse in Mathe ist. Kluge Eltern bestärken und motivieren ihre Kinder in diesen Nischen, sagen Fachleute. Und ja, oft brauche es nur ein liebevolles Lächeln, ein freundliches Gesicht, das Gefühl, geliebt zu werden, so wie man ist.