Wenn Kinder als Eigentum der Eltern gelten, dann symbolisiert dies auch die Herrschaft der Erwachsenen und Älteren. «Mütter sind oft treibende Kraft, vor allem beim Thema Sexualität und Jungfräulichkeit», erklärt Anu Sivaganesan. Sexuelle Bedürfnisse oder nur schon blosse Verliebtheit sind tabuisiert und verboten. Ein Kuss auf die Wange unter Teenagern kann mit dem Verlust der Jungfräulichkeit gleichgesetzt werden. Jeder Schritt wird überwacht, die Mädchen werden kontrolliert, getrackt, von anderen Familienmitgliedern an die Eltern verraten.
Dauerndes Verheimlichen
Viele Jugendliche sind dauernd damit beschäftigt, zu verheimlichen. Das kostet Kraft und Energie. Dazu der Leistungsdruck in der Schule oder in der Lehre. Druck, psychische Gewalt und emotionale Erpressung führen auch zu Suizidgedanken. Jede dritte Frau, die sich bei der Fachstelle meldet, hat suizidale Gedanken oder einen Suizidversuch hinter sich. Auch Susan.
Susan erzählt: «Meine Mutter sagte nur: ‹Wenn du in die Hölle willst, dann bring dich um!› Bei mir kam erschwerend hinzu, dass jemand aus der erweiterten Familie sexuelle Handlungen an mir vorgenommen hat. Über Jahre. Er hat mich gezwungen, ihn zu berühren. Vergewaltigt hat er mich nicht. Ich war acht Jahre alt.
Anfangs dachte ich, das sei normal. Als ich zwölf war, sagte ich es meiner Mutter. ‹Du hast das geträumt›, war ihre Antwort. Erst Jahre später kam alles ans Tageslicht. Die Situation eskalierte. Mein Vater nannte mich eine Psychopathin. Meine Mutter sagte: ‹Du hast ihn verführt.› Es war unmöglich, den Mann zur Rechenschaft zu ziehen. Die Familie, sie wäre zerstört.
Meinen Vater liebte ich sehr. Es tat unendlich weh, dass er mir nicht glaubte. Er war beruflich viel unterwegs. Doch nur mit ihm konnte ich gut reden. Niemals über Persönliches, aber etwa über Bildung. Er wollte, dass ich Ärztin werde oder Anwältin. Gewöhnliche Berufe fand er unwürdig. Ja, klar, ich wäre gerne Anwältin geworden, hätten sie mich unterstützt statt unterdrückt.
Ich hatte Probleme in der Schule. Ich war total blockiert, immer müde, konnte mich nicht konzentrieren. Die Noten waren entsprechend. Ich war still, hatte wenig Freundinnen. Durfte ich mal raus mit Kolleginnen, musste ich um 18 Uhr zu Hause sein. Meist durfte ich aber nicht. Darum fälschte ich meinen Stundenplan. So hatte ich mittwochs und freitags bis 17.30 Uhr freie Zeit, weil meine Mutter dachte, ich sei in der Schule. Bei einem Elterngespräch bin ich aufgeflogen. Der Lehrer unterstütze meine Mutter in ihrer Empörung und fand mein Verhalten total daneben.
Gegen aussen liess sie sich nie was anmerken, sie war nett, freundlich, sogar humorvoll. Zu Hause nahm sie mir dann meine Zimmertür weg. Um mich mit dem Verlust meiner Privatsphäre zu bestrafen. In der Schule hätte man merken können, wie schlecht es mir geht. Die Anzeichen waren deutlich. Doch kein Lehrer hat je nachgefragt. Ich traute mich nicht, etwas zu sagen.
Ich wäre froh gewesen, wenn mir jemand zugehört, mir vielleicht sogar geholfen hätte. Wahrscheinlich haben sie auch mitbekommen, wie mich meine Mutter einmal vor der Schule an den Haaren wegschleppte. Zur Frauenärztin, damit die mein Hymen überprüfte. Der Grund war, dass ich mich vor der Schule mit einem Nachbarsjungen unterhalten hatte. Die Ärztin weigerte sich, mich zu untersuchen.
Verliebt habe ich mich einmal. Heimlich natürlich. Aber da sind wir schon bald weggezogen, in mein Heimatland, das war am Ende meiner Schulzeit. Ich war 15. Weil ich auch dort in der Schule nicht gut war, sollte ich heiraten. Sie stellten mir meinen zukünftigen Ehemann vor. Er sagte, er werde mir meinen Schweizer Pass wegnehmen, meine Freiheit. Ich müsse ihm Kinder gebären. Dann bin ich geflohen. Mein Vater setzte mich aber massiv unter Druck, drohte mir. Darum kehrte ich zurück. Zwei Wochen später wurde ich mit einem anderen Mann verheiratet. Er war mein Cousin.»