Was aber bedeutet es für Mütter und Väter, 15 Jahre nach der letzten Schwangerschaft, 12 Jahre nach dem letzten Nuckeln an der Brust, 10 Jahre nach dem letzten Windeln wechseln und Töpfchen leeren, noch einmal auf Feld Eins zu beginnen?
Jürg Frick, Geschwisterforscher an der pädagogischen Hochschule in Zürich, sieht die Sonnen- und Schattenseiten eines Neustarts. Ein Trumpf: «Eltern nehmen bei einem Nachzügler sicher vieles gelassener.» Sie geraten nicht mehr bei jedem Pickelchen in Panik, wissen Babys mannigfaltige Klaviatur von Weinen, Wimmern und Zetern zu interpretieren und haben dank ihrer bereits grösseren Kinder längst verinnerlicht: Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.
Die Kehrseite sieht der Professor für Psychologie und Pädagogik in der Anstrengung, sich nochmals ganz auf ein Kleinkind einzulassen: «Besonders für Mütter ist es manchmal schwierig, sich über einen so langen Zeitraum Kindern zu widmen und die eigenen Bedürfnisse zurückzustellen.» Verständlich, wenn sie angesichts des 11. Räbeliechtliumzugs, 111. Elternabends und 1111. Znünibrötlis der Wiederholungen überdrüssig sind.
Manchmal drehen Eltern mit einem Nachzügler auch im monetären Hamsterrad: Wo bei anderen die Kinder schon ausgeflogen sind und auf eigenen Füssen stehen, belasten Schulreisen und Ausbildung das Portemonnaie der Eltern meist über deren Pensionierung hinaus.
Geschwister mit sehr grossem Abstand wachsen oft in zwei verschiedenen Welten auf. Während das Kleine noch am Schnuller nuckelt, versucht sich der Teenager am Glimmstängel. Und hängt der Grosse im Jugendclub ab, spielt der Nachzügler derweil noch in der Kita. Doch so unterschiedlich die Soziosphären sind, so harmonisch verlaufen laut Forschern die Beziehungen zwischen den ungleich alten Geschwistern. Nach allfälligen Anlaufschwierigkeiten übernehmen die Erstgeborenen gerne Verantwortung und knüpfen mit dem Schürzenkind – gewissermassen als zusätzliches «Mütterchen» oder «Väterchen» – eine Bande fürs Leben. Den Konkurrenzdruck, den kurz nacheinander geborene Geschwister erleben, entfällt.
Ein Nachzügler wächst meist mit viel Zuwendung und Wärme auf, räkelt sich darin wie ein Löwe in der Sonne. Die Regeln sind lockerer als beim Erstgeborenen und die Bereitschaft der Eltern, Wünsche zu erfüllen, wächst womöglich parallel zum Verlust der Kraft, die Erziehung kostet. Daraus kann eine Anspruchshaltung entstehen. Jürg Frick legt Eltern von Nesthäkchen nahe, sich zwar Zeit zu nehmen für die Jüngsten, sie aber weder zu verwöhnen, noch zu verzärteln. Und ihnen schon gar nicht die Rolle des Hilflosen überzustülpen. «Vielmehr sollten Nachgeborene als Individuum wahrgenommen und gestärkt, und keinesfalls mit den älteren Geschwistern verglichen werden.»
Ob schicksalshaft geboren oder von langer Hand geplant – Nachzügler bringen meist noch einmal Genugtuung, Gewusel und Glück ins Haus. Zum Kitten einer bröckelnden Beziehung eignen sie sich nicht. Umso mehr aber dazu, Eltern jung und fit zu halten und das Familienleben um Jahre zu verlängern.