Kinder zwischen 3 und 6 Jahren lieben Doktorspiele. Gibt es Grundregeln?
Wie die meisten Interaktionen zwischen Kindern ist auch das «Dökterle» ein Spiel. Ein Spiel, bei welchem Kinder gegenseitig ihre Körper entdecken. Genau wie bei anderen Spielen haben die Eltern die Verantwortung, aufmerksam zu bleiben und einzugreifen, falls es notwendig ist. Haben sie das Gefühl, dass ein Kind zu etwas gezwungen wird, oder dass ein Machtgefälle bezüglich Alter, Kraft oder Durchsetzungsvermögen besteht, müssen sie eingreifen.
Werden wir konkret: Ich habe drei Fallbeispiele mitgebracht, zu welchen ich gerne Ihre Meinung hören würde: Ein 3-jähriges Mädchen reibt sich auf dem Bauch liegend und offensichtlich mit Wohlgefühl sein Geschlechtsteil. Sollen die Eltern reagieren? Oder sich diskret zurückziehen?
Wenn Eltern Masturbation oder kindliche Sexualität beobachten, spiegelt man optimalerweise das Kind und bestätigt ihm, dass es gut ist, schöne Gefühle zu haben.
Was, wenn Kleinkinder in der Öffentlichkeit masturbieren?
Dann sollen Eltern altersentsprechend vermitteln, wo der Ort ist dafür und wo nicht.
Zweites Beispiel: Ein 4-jähriger Bub möchte wiederholt die Füsse seiner Mutter küssen, weil er das schön findet. Ihr ist das schrecklich unangenehm. Wie soll sie reagieren?
Hat sich beim Kind bereits ein Fetisch entwickelt? Da geht es wohl nicht schon um einen Fussfetisch. Wenn es der Mutter unangenehm ist, dann soll sie das sagen und die Füsse zurückziehen. Sie kann dem Jungen zwar bestätigen, dass er das gerne macht, sie das aber für sich nicht will.
Zwei Achtjährige reden und lachen gerne über «Figgen» und «Blasen». Sollen die Eltern intervenieren?
Kinder in diesem Alter wollen mit diesen Begriffen meist provozieren. Sie merken, dass andere darauf reagieren und sie Erwachsene damit schockieren können. Sex sells, gilt schon bei den Jüngeren. Wenn man merkt, dass der Inhalt von «Ficken» und «Blasen» den Jungs gar nicht klar ist, kann man das als Anlass nehmen, um zu erklären, worum es geht.
Kinder begegnen heute durch Social Media bisweilen sehr früh pornografischen Inhalten. Wie sollen Eltern damit umgehen?
Ich denke relativ konservativ diesbezüglich – ich würde gerade kleinere Kinder von Social-Media-Kanälen fernhalten und sie schützen. Einem Achtjährigen würde ich noch kein Handy in die Hand drücken. Ab 12 Jahren ist die Kontrolle schwieriger, da ist es wichtig, einen Kinderschutz zu installieren. Andererseits ist nicht jede Begegnung im Internet mit Pornografie gleich schädlich. Lange Zeit finden Kinder pornografische Inhalte sowieso grusig und wenden sich ab, wenn sie zufällig darauf stossen. Kinder, die gelernt haben, sich bei Fragen an die Eltern zu wenden, werden dies auch tun, wenn sie irritierende Bilder zu Gesicht bekommen.
LGBTQI+ ist ein grosses Thema, auch bezüglich der sexuellen Erziehung. Die Kategorien «Mann oder Frau» respektive «Mann mit Frau» genügen längst nicht mehr. Die sexuelle Aufklärung wird für Eltern entsprechend komplexer, manche fühlen sich überfordert. Was raten Sie?
Auch ich fühle mich angesichts der stets wachsenden Buchstabenfolge manchmal überfordert! Die Frage ist aber, von welcher Überforderung Sie sprechen: Fühlen sich Eltern angesichts der Vielfalt der sexuellen Identitäten überfordert? Oder weil LGBTQI+ nicht in ihr Wertesystem passt und es für sie undenkbar ist, dass «Mann mit Mann» und «Frau mit Frau» Kinder haben können?
Intoleranz liegt mir fern, ich spreche von der sexuellen Aufklärung, respektive davon, wie Eltern die unterschiedlichen sexuellen Identitäten und Orientierungen den Kindern vermitteln können.
Als Psychologe und Sexualpädagoge ist es mir wichtig, sexuelle Offenheit und Gesundheit zu fördern. Nicht jede Entwicklung ist eine heterosexuelle, die ins Schema «Mann mit Frau» passt. Das zu vermitteln finde ich wichtig. Ich weiss aus meiner Praxis, dass in den Lebensläufen von Menschen, die nicht der heterosexuellen Norm entsprechen, grosse Schwierigkeiten und psychische Erkrankungen entstehen können.
Wie können Eltern das ihren Kindern vermitteln?
Reagieren Eltern mit «Wäk, wie gruusig» angesichts eines non-binären Menschen, fördert das die Toleranz nicht. Sobald das Kind zum Beispiel im Kindergarten auf einen Kollegen stösst, der zwei Mütter oder zwei Väter hat, ist das eine gute Gelegenheit zu erklären und offen auf sexuelle Identitäten und Orientierungen zu reagieren. Im Kleinkindalter sollen Kinder meiner Meinung aber nicht über LGBTQI+ aufgeklärt werden, weil es Kopfwissen ist, das für sie noch nicht verständlich ist.
Das Interview erschien zuerst in der Ausgabe 6/21 von «wir eltern»