Sie erinnert sich an eine Mama, die oft müde war, schlechte Laune hatte oder wegen Nichtigkeiten wütend wurde. Aber auch wenn sich in ihrem Kopf etwas geändert hatte, blieb es immer noch ihre Mama. Die Liebe zu ihr war nicht einfach ausradiert. «Ich und mein Bruder lernten, damit zu leben, dass wir zum Beispiel nie laut sein durften», erzählt Lya.
Manchmal brachte ein harmloser Geschwisterstreit zwischen Lars und Lya, eine CD mit Kinderliedern oder ein summender Ventilator ihre Mutter zum Explodieren. Schwieriger war für Lya, dass ihr Stephie kaum helfen konnte in der Schule. «Wenn ich etwas nicht verstand, bezahlte ich mit einem Rüffel vom Lehrer.» Während andere Kinder in Familienprojekten coole Ideen entwickelten, mühte sich Lya zu Hause allein ab. Weil ihre Mutter seit dem Hirnschlag das kleine Einmaleins an den Fingern abzählen muss, fehlte auch die Unterstützung in der Mathematik.
Strukturieren fällt nach dem Hirnschlag schwer
Niemand half Lya und Lars, daran zu denken, den Turnsack oder das Formular mit der elterlichen Unterschrift einzupacken. «Wir konnten Mama zehnmal sagen, sie solle das Blatt unterschreiben, sie vergass es immer gleich wieder.»
Nagende Schuldgefühle Seit dem Hirnschlag fällt es Stephie Leutwyler schwer, den Alltag zu strukturieren: Ist sie auf dem Klo, beginnt sie anschliessend das Badezimmer zu putzen – obwohl die mit Putzmittel eingeschäumte Küche darauf wartet, abgespült zu werden oder die Wäsche längst aus der Maschine hätte geholt werden müssen. Nein, das ist keine vorübergehende Verträumtheit oder Schusseligkeit, sondern ein täglicher, stündlicher, ewiger Kampf gegen die Ablenkbarkeit.
Zur Abhilfe hat Stephie Magnetschilder gebastelt mit Aufschriften wie «Waschmaschine läuft» oder «Bügeleisen eingesteckt». Diese heftet sie als Erinnerungshilfen an die Eingangstür oder an eine Magnettafel im Gang. «Mama fragt tausendmal dasselbe. Alle paar Minuten wieder von vorne», erzählt Lya weiter und schielt zu ihrer Mutter, die eben einen zweiten Cappuccino aus der Cafémaschine zubereitet.
Stephie guckt zurück – und die beiden prusten los. «Manchmal getraue ich mich gar nicht mehr, zu fragen, weil ich denke, ich hätte dasselbe schon gefragt!», sagt Stephie lachend. Klar, ihre Mutter verliere manchmal den Faden oder wechsle plötzlich das Thema, sagen Lya und Lars (17), der inzwischen dazu gestossen ist.
Es sei bedrückend, wenn ihre Mama jeweils wegen einer scheinbaren Nichtigkeit weine, motze oder ausraste. Dann wird sie laut, schimpft und flucht. Dafür finden die beiden im lustigeren Fall Stephies Portemonnaie im Kühlschrank. Tief eingegraben hat sich bei Lya aber die Verlustangst.
Angst um das Leben der Mutter
Überkommt Stephie einen leichten Schwindel, versetzt sie dies noch heute in Panik. «Sitz ab, Mama, sofort!», ruft sie. Und: «Mama, wen soll ich jetzt anrufen?» Es triggert. Die Angst um ihre Mutter trifft Lya erneut wie ein Faustschlag in den Magen.
Eltern haben für ihre Kinder da zu sein – nicht umgekehrt. Ein Rollentausch belastet sie schwer. Stephie Leutwyler war das nach dem Schlag genauso klar wie vor dem Schlag. Deshalb, sagt sie, nagen immer wieder die Schuldgefühle. Sich als Mutter nicht mehr wie früher um ihre Kinder kümmern zu können, schürt die Selbstzweifel.
Gesprächsgruppe von Fragile Suisse hilft
Um psychisch Oberwasser zu behalten, hält sich Stephie seit sieben Jahren an ihrer psychologisch geleiteten Gesprächsgruppe von Fragile Suisse, der schweizerischen Organisation für Menschen mit Hirnverletzung, fest wie an einem Rettungsanker.