«Ich bin stolz auf uns»
Am frühen Abend des 11. Oktober 2018 erstickte Alia (2) an einem Luftballon. Ihre Mutter Stephanie Stadelmann war allein Zuhause mit Alia und Malea (4). Sie versuchte, mit telefonischer Unterstützung eines Mannes der Notrufzentrale, Alia zu reanimieren. Doch selbst das Team der Rettungsambulanz, das nach 12 Minuten eintraf, schaffte es nicht. Wie sich später herausstellte, war der Ballon so unglücklich im Hals steckengeblieben, dass eine Rettung unmöglich war. Alia hatte keine Chance.
Stephanie Stadelmann (38), Fachangestellte Betreuung Behinderte:
«Hätte ich gewusst, dass ich Alia nicht retten kann, ich hätte sie einfach in den Arm genommen. So aber kämpfte ich um ihr Leben. Leider war Malea die ganze Zeit dabei. Das hat auch bei ihr tiefe Spuren hinterlassen.»
Urs Stadelmann (36), Mitinhaber Swiss-Cheese-Factory: «Normalerweise bin ich um diese Zeit zuhause, aber ausgerechnet an diesem Abend war ich nicht da. Ich war nicht da, um Stephi zu unterstützen, nicht da für Malea und nicht, als Alia ging. Das ist so mein Thema, das beschäftigt mich. Ich habe Alia noch in den Armen gehalten, mich von ihr verabschiedet. Aber da war sie schon tot. Die harten Bilder, die musste ich nicht sehen. Ich besuchte Alia auch nicht, als sie aufgebahrt war. Ich wollte mir die Bilder bewahren von dem Mädchen, das sie war.»
Stephanie: «Urs und ich haben uns zum Glück nie gegenseitig Vorwürfe gemacht. Andernfalls wären wir heute nicht mehr zusammen, denn dann würde ich in seinem Blick immer diesen Vorwurf sehen, selbst wenn es gar nicht so wäre.»
Urs: «Wir hatten denselben Schmerz, aber wir trauerten unterschiedlich. Ich musste für mich Raum schaffen, ging unter die Leute, musste vorwärts gehen. Ich hatte meine Momente, in denen ich bewusst bremste und trauerte. Aber ich suchte den Alltag, ging wieder arbeiten. Ich habe gute Freunde und meine Familie, mit ihnen konnte ich reden. Aber irgendwann kommst du an einen Punkt, da willst du nicht mehr, dass es immer Thema ist. Irgendwann konnte ich es nicht mehr ertragen.»
Stephanie: «Ich war ganz unten. Total am Boden. Ich hatte riesige Schuldgefühle, befand mich in einer Schockstarre. Ich war nur noch zuhause, um Alia nahe zu sein. Doch ich wusste, du musst jetzt da rein, ganz tief in diese Wunde, du musst dich dem stellen. Sonst kommt das nicht gut. Ich begann, alles aufzuschreiben und ich ging mehr als ein Jahr zu einer Psychologin. Es war ein langer Prozess. Urs kam ein paar Mal mit zur Therapeutin, auch wenn es ihm widerstrebte.»
Urs: «Ja, ich ging nicht gerne hin. Du haust natürlich dann wieder voll ins Thema rein, wenn du vielleicht gar nicht bereit bist dazu. Aber ich muss sagen, es war gut, nur schon, damit ich erfuhr, wie es Stephi geht.»
Stephanie: «Malea war auch in Therapie. Es ging ihr zeitweise sehr schlecht. Die Psychologin erklärte, in Maleas Alter seien Eltern magisch, Superhelden, die alles können. Malea hatte aber erlebt, dass ich ihre Schwester nicht retten konnte. Ihr Vertrauen in mich und ins Leben waren erschüttert. Und sie hatte ihre beste Freundin verloren.»
Urs: «Wir schafften uns Bali an, einen Kater, um Malea bei der Verarbeitung ihres Traumas zu unterstützen. Er brachte ihr Freude und hat ihr geholfen, am Morgen in den Kindergarten zu gehen, indem er sie jeweils ein Stück begleitete. Bali kam zur genau richtigen Zeit zu uns. Meine Angst ist schon, wie Malea in Zukunft mit dem Erlebten umgeht. Ich hoffe, dass sie es packt, wenn sie älter ist. Aber sie macht das wirklich prima.»
Stephanie: «Was ich als besonders hart empfunden habe war, dass mich die Leute mieden. Ich hätte mir gewünscht, sie würden mich ansprechen, ich hätte gerne über das, was passiert war, gesprochen und über Alia, wie sie war. Im Sommer 2019 wurde ich schwanger. Wir wollten beide ein Kind, aber es war zu früh. Ich hatte Panik, dass das Baby den Platz von Alia einnimmt. Als Kiana dann zur Welt kam, sah sie ganz anders aus als Alia. Ich war unglaublich erleichtert. Kiana tut uns unheimlich gut. Wir sind noch einmal einen Schritt weitergekommen. Für mich ist sie wie eine Sonne, die aufgegangen ist.»
Urs: «Mittlerweile sieht Kiana fast identisch aus wie Alia. Auch von der Art her ist sie ihr ähnlich. Das ist krass. Aber ich sehe in ihr nicht Alia, sondern Kiana, die so viel Herziges von ihrer Schwester hat. Alia war mir sehr nahe, das finde ich jetzt in Kiana wieder. Das ist total schön.»
Stephanie: «Mit den Aufzeichnungen konnte ich vieles verarbeiten. Daraus ist ein Buch entstanden. Ich habe es Malea gewidmet, damit sie es später lesen kann. Denn unsere Erinnerungen werden verblassen. Ich hoffe, dass ich mit dem Buch Menschen erreiche, die ähnliches erlebt haben. Dann ist Alias Tod nicht mehr ganz so sinnlos.»
Urs: «Die Zeit heilt nichts, die Narben bleiben. Aber ich bin stolz auf uns, wie wir es geschafft haben, weiterzugehen. Ich fühle mich heute stärker. Mir ist das Schlimmste passiert, was passieren konnte. Egal was kommt, es kann mich nicht mehr umhauen. Wir haben für Alia eine Japanische Zierkirsche gepflanzt. Wenn wir mal 80 Jahre und noch hier sind, werden wir unter diesem Baum sitzen, in Gedanken bei unserem Mädchen. Der Baum wird riesengross sein und stark. Und er wird wunderschön blühen. So stelle ich mir das vor.»
Das Buch «Ich hätte mein Leben gegeben, um deines zu retten» ist erhältlich unter: alia-geschichte.ch