Warum schweigen die Kinder oft lange, wenn was passiert ist?
Wenn es so weit ist, ist oft eine grosse emotionale Verbundenheit zwischen Kind und Täter aufgebaut. Er ist doch ein Lieber. Die Eltern mögen ihn auch. Der Täter sagt dem Kind, das sei alles ganz normal. Er sagt, es sei ein kleines Geheimnis und macht das Kind zu seinem Verbündeten. Oder er droht mit Gewalt und Tod an den Eltern, Geschwistern oder dem Haustier.
Manchmal suchen Kinder ihren Peiniger von sich aus auf. Warum tun sie das?
Vermutlich weil alles so angenehm gestaltet ist. Es bekommt beim Täter viele Freiheiten, wenige Regeln, der Täter schafft ein spannendes Umfeld, in dem er mit dem Kind Dinge macht, die es vielleicht zu Hause nicht darf. Autofahren, gamen, Filme gucken, Süssgetränke und Chips ohne Ende. Er verwöhnt, was für ein Kind natürlich reizvoll ist, es aber auch emotional verpflichtet. Meidet es ihn, hat es Schuldgefühle. Möglicherweise schafft es der Täter, dass das Kind denkt, die sexuellen Handlungen kämen von ihm aus.
Wie das?
Er lenkt es ganz langsam darauf hin, macht Kitzel-Spiele und Blödsinn, das lieben Kinder ja. Geht er dann weiter, behauptet er, das Kind habe die Berührungen gewollt, mehr noch, es habe sie provoziert und ihn verführt. Er sagt, dass es verdorben sei und das wohl nicht den Eltern erzählen könne. Und das Kind glaubt ihm aus Scham.
Spielen familiäre oder soziale Verhältnisse eine Rolle, ob ein Kind eher Opfer wird?
Missbrauch und Übergriffe finden in allen sozialen Schichten statt. Aber sicher ist es von Vorteil, in gutem Kontakt zum Kind zu sein, zu wissen, wo es sich aufhält, in gutem Austausch zu sein mit anderen betreuenden Personen und dem sozialen Umfeld. Klar ist aber: Werden Kinder Opfer, ist das weder das Versagen der Eltern noch die Schuld der Kinder. Verantwortlich dafür ist ganz allein der Täter.
Was können Eltern tun, wenn der Freund der Familie sich sehr um den eigenen Nachwuchs bemüht?
Es ist ein Balanceakt zwischen Überreagieren und Bagatellisieren. Ich empfehle wachsam zu sein und auf seine Menschenkenntnis zu vertrauen. Und darauf, dass das Kind sagt, wenn etwas nicht stimmt. Dann jedoch muss man reagieren, selbst wenn der Verdacht noch so ungeheuerlich erscheint. Fatal wäre aber, alle Männer unter Generalverdacht zu stellen. Die Gesellschaft und die Kinder brauchen gute Männerbilder, in der Familie genauso wie in der Kita oder der Schule.
Wenn ein vierjähriges Kind von detaillierten sexuellen Handlungen erzählt, kann das frei erfunden sein?
Kaum. Zum sexuellen Wissensstand eines Vorschulkindes gehören in der Regel nicht solche Aussagen. Entweder hat es etwas gesehen, oder es ist ihm etwas passiert.
Wohin können sich Eltern mit einem Verdacht wenden?
Die Opferhilfe und die Kindesschutzstellen der Kantone sind professionell und eine gute erste Anlaufstelle.
Können Eltern präventiv etwas tun?
Ja, sehr viel. Kinder sollen sagen dürfen, was sie denken. Und sie sollen Nein sagen dürfen. Privatsphären müssen respektiert werden, Kinder sollen entscheiden dürfen, ob sie allein aufs Klo gehen, alleine duschen oder ob sie sich nackt zeigen, küssen oder geküsst werden wollen. Eltern können ihnen ein gutes Vorbild sein, in dem sie entsprechende eigene Bedürfnisse auch durchsetzen. Zudem sollte die Sexualität von Kindern kein Tabuthema sein.
Kann jedes Kind Opfer werden?
Die totale Sicherheit gibt es nun mal nirgends. Doch wir können wie erwähnt viel tun mit präventiven Massnahmen und dem gesellschaftlichen Dialog über Missbrauch und Pädophilie.
Was soll ich tun, wenn mein Bruder mir sagt, dass er pädophil ist?
Hören Sie ihm zu, nehmen Sie ihn ernst, begleiten Sie ihn zur Beratung. Und lassen Sie ihn nicht fallen.
Die Interview-Zeit ist um. Monika Egli-Alge muss weg, Termine stehen an. Auf dem Weg durch die Räumlichkeiten des forio wagt man einen letzten Blick in den Warteraum. Der Mann im gestreiften Hemd ist weg. Es bleibt ein leerer Platz und ein Gefühl, das schwer zu orten ist. Es schwankt von Empathie zu Abscheu. Und bleibt hängen an einem Gedanken: Was, wenn der Typ im Hemd der eigene Bruder wäre?