Die Verhaftung
Und dann kommt der Abend, der alles verändert. Es ist im November 2014. Er zieht das Küchenmesser aus dem Holzblock, wie schon viele Male zuvor. «Ein Geräusch, das ich niemals vergessen werde.» Er setzt ihr das Messer an den Hals. Und zum ersten Mal schreit sie. Dieser Schrei, dieser Ausbruch aus der Stille, stoppt die Spirale der Gewalt.
Ein Nachbar hört den Schrei. Er war im Voraus von Leas Mutter informiert worden. Er soll bei Anzeichen von Gewalt in der Nachbarwohnung die Polizei anrufen. Die Polizei nimmt Leas Ehemann mit. Er wird die nächsten 234 Tage im Gefängnis verbringen. Untersuchungs- und Sicherheitshaft.
Als die Polizei den Mann abführt, sagt er zu Lea: «Sag ihnen, dass nichts geschehen ist.» Sie schaut zu Boden. Und stürzt in eine unendliche Leere.
Schweigen brechen
Nie hatte Lea irgendwem irgendwas erzählt. Schliesslich will man niemandem Einblick gewähren in intimste Verletzungen und Leiden, die man selber kaum aushält, sagt sie. Sie schweigt bis im Herbst 2014. Da deutet sie erstmals ihrer Mutter an, dass ihr Mann gewalttätig ist. Keine Details. Doch ihre Eltern sind alarmiert. Lea bereut es sofort, denn ihre Mutter ruft nun täglich an, fragt nach. «Nein, ich war ganz und gar nicht froh über die Einmischung», sagt sie. Sie hat Angst. Was, wenn er was merkt?
Doch die Mutter lässt sich von Leas Wut nicht beirren. Sie informiert den Nachbarn. Und sie sucht Rat bei der Polizei und der Opferhilfe. Beide melden sich telefonisch bei Lea. Die bebt vor Angst. Verleugnet, lehnt jegliche Angebote ab. Sie bekommt die Adresse einer Polizistin und einen Gesprächstermin. Die Eltern drängen sie, hinzugehen. Die Polizistin sowie die Opferhilfe erklären, dass häusliche Gewalt ein Offizialdelikt und somit strafbar ist. «Plötzlich sagte jemand von aussen, dass er das nicht tun darf. Und sie glaubten mir.» Doch da ist Angst. Er wird wütend werden.
Weil sie keine Beweise hat, wird ihr geraten, beim nächsten Vorfall die Polizei zu alarmieren. Sie hätte es nicht getan, an diesem Abend im November, als er ihr wieder das Messer an den Hals setzte. Doch der Nachbar erledigte das.
Die Freiheit
Es war nicht Erleichterung, die Lea als erstes spürte. Alles war absolut surreal. «Jetzt musste ich allen davon erzählen. Ich war so verletzt, habe mich geschämt und ich war so wütend auf meine Mutter. Ich wollte es allein auf die Reihe bekommen. Zwei Jahre wollte ich noch ausharren und dann gehen. Dass ich es nicht allein geschafft hatte, hinterliess einen schalen Nachgeschmack.»
Die Erleichterung kam erst langsam. Und die Erkenntnis: Sie haben mich gerettet. «Ich bin meinen Eltern unendlich dankbar dafür, dass sie gehandelt haben.» Es brauche in einer solchen Situation Nachbarn, Familie, Freunde, Lehrer, jemand, der reagiert, wenn er etwas hört oder sieht. «Auch wenn die Opfer sich gegen Hilfe wehren, wie ich es getan habe.»
Sie fände es zudem hilfreich, wenn es eine Handynummer für Gewaltopfer geben würde, auf die man Fotos von Verletzungen als Beweismittel übermitteln könnte. Jegliches Sammeln von Beweisen hätte für Lea lebensgefährlich sein können.
Am 14. Juli 2017 wurde ihr Mann in zweiter Instanz schuldig gesprochen der Gefährdung des Lebens, mehrfachen Nötigung, mehrfachen Körperverletzung und mehrfachen Drohung. Er wurde zu 24 Monaten Haft verurteilt. 234 Tage war er bereits in Haft. Der Vollzug der Reststrafe wird aufgeschoben und eine Probezeit von drei Jahren festgelegt. Noch vor Gericht bestreitet der Mann alles. Er weint. Das Gericht glaubt ihm nicht.
Die Kinder sind derzeit in therapeutischer Behandlung. Sie haben wohl doch einiges mitbekommen. «Was ich heute vor allem empfinde? Wut. Über mich, dass ich nicht schon viel früher ausgestiegen bin. Und endlose Freiheit. Ich kann leben, allein entscheiden, muss nicht mehr gehorchen. Ich bin ohne Angst. Ich kann es manchmal noch gar nicht richtig fassen.»