Jaël Malli beschreibt diese emotionale Verschmelzung als Tanz zwischen ihr und ihrem Kind. Die ehemalige «Lunik»-Sängerin hebt die Arme in die Luft und ahmt einen Gesellschaftstanz nach. Er macht einen Schritt, sie zieht nach. Schön im Kreis herum. So bewegen sich ihre Gefühlswelten immer in die gleiche Richtung und schaukeln sich auch mal gegenseitig hoch. Praktisch unmöglich, dass ihr Sohn kooperativ ist, wenn sie einen harten Tag hat. Dass sie als Erwachsene immer verantwortlich dafür ist, dass der Tanz nicht ausufert, macht es nicht leichter.
Institutsleiterin Brigitte Küster stellt fest, dass es für hochsensible Mütter keine Schnellstrasse gibt, die im Eilzugtempo zu einem ausgeglichenen Familienleben führt. Das Wichtigste sei, das eigene Bauchgefühl zu finden; eine Intuition, die vorher vielleicht zugunsten der äusseren Einflüsse und Ansprüche anderer ignoriert wurde. Oft sind es einfache Dinge, die helfen; die einen aber auch aus der Balance bringen können, wenn sie lange vernachlässigt werden: Essen, Trinken, Schlaf. Ruheinseln oder eben Rückzugsmöglichkeiten sind für Hochsensible lebensnotwendig. Wer den Alltag mit Baby oder Kleinkind kennt, weiss aber auch, dass diese sich nicht einfach unsichtbar machen, wenn man mal etwas Ruhe bräuchte. Im Gegenteil.
Die Expertin rät deshalb dazu, fremde Hilfe einzubeziehen und eben in diesen Zeiten keine Notwendigkeiten zu erledigen, sondern nur sich selber Gutes zu tun. Auch würden Kinder sehr schnell lernen: «Mütter müssen sich selber genauso ernst nehmen wie ihre Kinder – und ihre Ansprüche wirklich einfordern.»
Losgelöst von Konventionen
Jaël Malli und Tanja Suppiger sind beide hochsensible Mütter, die sich von Konventionen gelöst haben. Tanja lässt ihre Kinder in einer Schule unterrichten, die selbstbestimmtes Lernen fördert und vertraut darauf, dass diese ihren Weg finden, auch wenn ihr Umfeld manchmal kritisch ist. Jaël ist es wichtig, Eliah ein solides Fundament mitzugeben; sie stillt ihn noch und richtet ihren Alltag nach ihren und seinen Bedürfnissen. Wo sie sich früher angepasst hätte, lebt sie heute bewusster so, wie es ihr guttut.
Beide Mütter haben ihre Lebensmodelle auf den Kopf gestellt und anfängliche Vorstellungen, etwa wenige Monate nach der Geburt wieder ins Erwerbsleben einzusteigen, über Bord geworfen. Nicht nur aufgrund ihrer eigenen Bedürfnisse, sondern auch in Bezug auf die Kinder. Die Veranlagung ist vererbbar und beide Mütter sehen in ihren Kindern die Signale einer verstärkten Sensitivität. Das heisst allerdings nicht, dass sie alle Aktivitäten ihren Kindern unterordnen.
Tanja Suppiger, gelernte Zahntechnikerin mit Meisterprüfung, hat sich lange Zeit genommen, ihre Berufung zu suchen. Ihre Hochsensibilität hat sie so stark geprägt und fasziniert, dass sie diese zu ihrem Job machte. Mit ihrem HerzBauchWerk coacht und begleitet sie andere im Alltag, malt Lebensbäume und hat vor einigen Monaten ihr erstes Buch zum Thema Raunächte veröffentlicht. Sie steht jeden Morgen um vier Uhr auf, um ein paar Stunden zu arbeiten, bevor die Kinder aufwachen. Ihre ganz persönliche Ruheinsel, die ihr Kraft für den Alltag mit den Kindern gibt.
Auch Jaël Malli hat ihre Stimme nach einem Jahr Pause wiedergefunden und im Herbst 2019 ihr neues Album «Nothing to Hide» veröffentlicht. Ihre Tour pausiert aufgrund der Coronakrise. Jaël Malli zieht ein Stück weit Momente für sich und ihre Musik ein, nachdem sie ganz viel ihrer Zeit und Energie ihrem Sohn geschenkt hat.
Im täglichen Jubeltrubel zwischen Kindern, Beruf und Partnerschaft bedeutet es für hochsensible Mütter eine besondere Herausforderung, Wege zu finden, ihr Bedürfnis nach einem geregelten, liebevollen Familienleben sowie nach Kontrolle und Struktur zu erfüllen. Gelingt es, gewinnen sie Raum und Zeit, um die intensiven Gefühle, die Mutterschaft gepaart mit Hochsensibilität mit sich bringt, bewusst zu leben.