In Deutschland klang es zu jener Zeit wie gesagt anders. Besonders im Süden des Landes warnten Fachleute aus Pädagogik und Pädiatrie eindringlich vor den Gefahren des Fernsehens. Gerade eben die grosse Aufnahmefähigkeit mache die Kleinsten speziell verwundbar. Ein Schock seien die vielen Bilder für die jungen Gemüter.
Dabei: Natürlich hockten Vorschulkinder auch in Deutschland längst vor dem Bildschirm, Fernsehverbot hin oder her. Wäre es da nicht besser, wenn man ihnen ein Programm böte, das sich an ihnen orientierte? Und während man noch überlegte, kam aus den Vereinigten Staaten: die Sesamstrasse.
Die Wucht, mit der das Programm damals auch in Europa einschlug, lässt sich wohl nur nachvollziehen, wenn man sie neben bis dahin übliche Kindersendungen legte: Da Mädchen und Jungen artig im Kreis sitzend, eine Erwachsene in der Mitte, die Geschichten vorliest und zum Basteln anleitet, die Bildführung fast statisch.
Dort: Monsterpuppen mit verwuscheltem Haar, in Pink, in Gelb, in Blau, Hinterhof statt Klassenzimmer, schnelle Schnitte, rapide Sequenzen. Längst hatten Fernsehmachende gemerkt, dass es nichts gab, das die Kleinsten am Fernsehen aufmerksamer verfolgten als die Werbeblöcke zwischen den eigentlichen Programmen.
Schlagartig war die Sesamstrasse damals auch in Europa bekannt, hatte sie doch schon wenige Monate nach der ersten Ausstrahlung 1970 in München den Prix Jeunesse International gewonnen, den Oscar des Kinderfernsehens. Nun schlug auch in Deutschland die grosse Stunde des Vorschulfernsehens: In kurzer Zeit entstanden aufwendig produzierte Programme wie Rappelkiste, das feuerrote Spielmobil – und natürlich die Sendung mit der Maus.
TV sollte Kinder ermutigen, kritisch zu sein
Während man sich in den USA von einem guten Vorschulprogramm erhoffte, dass es benachteiligte Kinder mit Buchstaben und Zahlen vertraut machen und ihnen zu mehr Erfolg in der Schule verhelfen würde, standen diesseits des Atlantiks soziale Kompetenzen im Vordergrund. Das Fernsehen sollte Kinder dazu ermutigen, kritisch zu sein und eigenständig, für sich selbst und andere einzustehen.
«Es ging nicht darum, im etablierten Bildungssystem voranzukommen – sondern das etablierte Bildungssystem zu hinterfragen», sagt die dänische Medienhistorikerin Helle Strandgaard Jensen, die sich schon lange mit den mannigfaltigen Debatten rund um den Medienkonsum von Kindern auseinandersetzt.
Manche Sendung habe dabei etwas gar stark den politischen Geist der 68er geatmet, stellt Maya Götz fest, die heute auch Geschäftsführerin des Prix Jeunesse International ist. «Aus Kindergartenkindern werden keine Systemkritiker.» Schliesslich sei für dieses Alter ja gerade bezeichnend, dass man sich fest an den Werten der erwachsenen Bezugspersonen orientiere.
Die Sendung mit der Maus habe da nie mitgemacht. Sie wollte von Anfang an einfach spannendes, lustiges und berührendes Fernsehen für die Kleinsten bieten. Journalismus für Fernsehanfänger. Kindheit wurde nicht als Anhäufung von Defiziten verstanden, die möglichst schnell behoben werden mussten, sondern als Lebensphase mit eigenen Bedürfnissen.