Papageien mögen keine Auberginen. Peperoni – ja, die schon. Aber Auberginen? Igitt. Mia ist sich da sicher und deshalb versteckt sie statt der Stoffaubergine lieber eine Peperoni unter ihrem Körper, den die Physiotherapeutin Sibylle gerade mit einem Plüsch-Vogel absucht. Mia lacht ihr grübchenverziertes Lachen: Auf dem Rücken zu liegen und von einem flauschigen Papagei auf Futtersuche abgeknabbert zu werden, findet die Fünfjährige lustig. Dabei dient das kitzelige Geknabber einem ernsten Zweck. Mia soll ihre Atmung und ihren Körper durch den Druck des Gemüses besser spüren lernen. Einen Körper mit Charcot-Marie-Tooth-Syndrom. Charcot-Marie-Tooth, kurz: CMT, ist genetisch bedingt und bedeutet, dass die Nerven nicht das tun, was sie sollten, nämlich Signale an die Muskeln übertragen. Das heisst: Doch, sie tun es schon, allerdings nur langsam und unzuverlässig und manchmal auch gar nicht.
Die Folge: Nicht stimulierte Muskeln schwinden. Besonders davon in Mitleidenschaft gezogen sind Arme und Beine. Laufen, Schreiben, Sitzen – das alles ist schwierig. Und oftmals, anders als bei Mia, unmöglich. Charcot-Marie-Tooth – darunter leidet etwa einer von 2500 Menschen. 1 : 2500. Aber irgendwer muss die 1 sein. Mia beispielsweise. Mit dieser Wahrscheinlichkeit und Fallhäufigkeit zählt das Syndrom zu den seltenen Krankheiten. Doch seltene Krankheiten sind häufig. 500 000 Menschen in der Schweiz leiden, laut Bundesamt für Gesundheit, unter einer Beeinträchtigung, die wenig bekannt ist. Etwa zehnmal so viele wie an Diabetes Typ 1 Erkrankte. Eine Heerschar von Seltenen sozusagen. Laut Schätzungen existieren weltweit 7000 bis 8000 dieser raren Krankheiten und Jahr für Jahr kommen zwei neu entdeckte hinzu. Jede Erkrankung davon ist so unterschiedlich wie die Kinder und Familien, die damit zu tun haben. Und doch ist vieles ähnlich.
Leben in Ordnern
Die Sache mit den Ordnern beispielsweise. Mias Ordner ist blau. Eleonora, 39, Mias Mutter, schleppt ihn an den grossen Tisch in ihrer Zürcher Küche. Beide Hände braucht sie, um die Krankenakte ihrer Fünfjährigen zu wuchten. Ordentlich darin abgeheftet: Mias Leben – erfasst in Anträgen, Diagnosen, Kostengutsprachen, Versicherungsnummern. In Briefen vom Kinderspital und vom Triemli-Krankenhaus. Von Orthopäden und Orthesen-Herstellern, die Mias Korsett und Beinschienen bauen. Schreiben von Krankenkasse und IV, HNO-Arzt und Optiker, Physiotherapeutin, Ergotherapeutin. Korrespondenz, in der es darum geht, ob Mia im Sommer auf die reguläre Quartierschule gehen kann oder doch nicht. Von der neuen Reittherapie. Noch irgendwas vergessen?