Elsbeth Freitag (61) ist seit 27 Jahren Schulpsychologin und Leiterin der interdisziplinären Schulabsentismus Arbeitsgruppe im Kanton St.Gallen. Sie wundert es nicht, dass die Zahlen der jungen Absenten steigen. «2019 hatten wir in der «Kriseninterventionsgruppe des Schulpsychologischen Dienstes, Kanton St.Gallen» 7 Fälle von komplexem Schulabsentismus, 2022 schon 34.» Genau nach Alter aufgedröselt werden die Zahlen zwar bislang nicht, «aber auch die jüngeren, die vor der Pubertät, sind spürbar häuger dabei», sagt sie. Fragt man sie und andere Schulpsycholog*innen nach den Gründen dafür, dass sich jetzt auch die «Kleinen» ausklinken, kommt eine bunte Liste. So bunt wie auch die Kinder verschieden sind. Und doch tauchen, egal, welche Fachperson man fragt, manche Gründe immer wieder auf. Dass:
◆ die Kinder heute bei Schuleintritt jünger als noch vor einigen Jahren sind und daher einige, wenns schlecht läuft, von Schulstunde 1 an gestresst hinterherstolpern
◆ ein Overkill neuer Medien die Aufmerksamkeitsspanne zusammenschnurren lässt. Reize aus Computer und Tablet mehr knallen als kreuznormaler Unterricht, Schule da im Vergleich fad erscheint.
◆ Jungs und Mädchen durchgetaktete Tage wie Manager haben und «Kinderburnout» mit einhergehender Totalverweigerung, von der Horrorvision zur Realität geworden ist.
◆ Leistungsanforderungen wachsen und wachsen. Anders als Kinderköpfe: die bleiben gleich klein.
◆ eine immer diversere Schülerschaft für Lehrpersonen eine Challenge ist. Haben sie doch 24 Schüler*innen aber nur zwei Hände, Ohren und Augen.
Und dann ist da diese verwickelte Geschichte von Picht und Option, Angst, Augenhöhe, Eltern, die es besonders gut machen wollen, Verantwortung und Mut.
Elsbeth Freitag versucht, sie zu erklären. Durch Corona, schildert sie, sei die SchulPicht in den Köpfen mancher Kinder zur Option mutiert. Man KANN da hingehen, MUSS aber nicht. Schliesslich hiess es zwei Jahre lang: Du hast Husten? Bleib daheim. Du fühlst dich schlecht? Bleib daheim. «Kinder lernen schnell. Auch wie man Unangenehmem am besten ausweicht.» Schreitet man da nicht umgehend ein, fängt eine fatale Abwärtsspirale an, sich zu drehen. Angst, Vermeidung, mehr Angst… «Deshalb», so Elsbeth Freitag, «müssen zügig die Lehrpersonen und die Eltern ins Spiel kommen mit einem deutlichen: Schulbesuch ist nicht verhandelbar. Wir helfen dir, wo immer wir können, aber du gehst. Punkt.»
Die Angst der Eltern vor Ablehnung
Doch mit den klaren Ansagen tun sich viele Eltern schwer, weiss Marina Zulauf Logoz (60), Psychologin in der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. «Heutige Eltern wollen es besonders gut machen, ihrem Kind möglichst Schwierigkeiten ersparen, nicht bestimmend sein, sondern auf Augenhöhe. Und sie wollen unbedingt durchgängig liebgehabt werden.» Im Koniktfall könnte es dann schwierig werden, sagt Marina Zulauf Logoz. «Angst, dem Kind zu viel zuzumuten oder die unbegründete Angst davor, nicht gemocht zu werden, ist wenig hilfreich. Eltern müssen sich zutrauen und den Mut finden, sicher voranzugehen und Verantwortung zu übernehmen.»