Wut über die Schmerzwogen
Weshalb es sich kulturhistorisch nicht durchgesetzt hat, dass Grossmütter jene Funktion übernehmen, die heute Hebammen, Doulas und Kindsväter innehaben, ist eigentlich erstaunlich. Stehen die Mütter ihren Töchtern nicht instinktiv so nahe, dass sie sich für das Überleben des Nachwuchses auch von der nächsten Generation verantwortlich fühlen? Verbindet nicht ein archaisches Band die Grossmütter mit ihren Enkeln? Zudem kann sich eine Frau, die selber geboren hat, besser in die momentweise durchaus brachiale Lage einer Gebärenden versetzen als ein Mann.
Dienstagmorgen, sechs Uhr, nach einem Fingerhut voll Schlaf schrillt erneut mein Handy. «Mama, bitte komm’ sofort – ich halte das nicht aus!» Ich steige aufs Velo, eine halbe Stunde später bin ich auf der Gebärabteilung, wo meine Tochter mittlerweile wimmernd und verschwitzt auf dem funktionalen Spitalbett liegt. Daneben steht Bojan und tritt nervös von einem Bein aufs andere. Wie eine Welle überrollt ihn die Übelkeit, jedes Mal, wenn Sophia sich durch eine Wehe kämpft. Als ich ihm anbiete, zwei Stunden zu übernehmen, damit er sich ausklinken kann, nimmt er dankbar an. Bei mir legt sich nun jener Schalter um, der die Emotionen wegdrückt und den Kopf klar und rational denken lässt. Auch Sophia scheint sich zu entspannen.
Der Wehenschreiber neben dem Gebärbett spuckt kaum hörbar die Kurven auf Papier aus, die Herztöne des Babys oszillieren im Normalbereich. Die junge Hebamme spricht meiner Tochter Mut zu, füllt Wasser nach, tastet feinfühlig die Öffnung des Muttermundes ab. Ihre engelsgleiche Gelassenheit haucht Zeitlosigkeit in den Raum. Bei den Untersuchungen ziehe ich mich in den Hintergrund zurück, sonst stehe oder sitze ich meist neben Sophias Bett, tupfe ihre Stirn, halte ab und zu während einer Wehe ihre Hand. Die Wut über die Schmerzwogen hinterlässt Abdrücke auf der meinen.
«Es kommt alles gut, bald hast du es geschafft», wiederhole ich wie ein Mantra. Besänftige im Wissen, dass noch viele Stunden vergehen können. Bojan pendelt zwischen Gebärzimmer und Spital-Lounge, wo auch seine Eltern besorgt auf die Geburt ihres ersten Enkels warten. Mit dem Vater in spe kehrt jedes Mal die Unsicherheit ins Spitalzimmer zurück. Spürbar die Scham des jungen Paares voreinander – die eine, weil sie sich ihm nicht in diesem Ausmass ausgeliefert zeigen mag, der andere, weil ihm das Verdammtsein zum Zuschauen die Luft nimmt.
Vielleicht ist es meine Präsenz, die stört. Dränge ich mich doch auf wie ein unwillkommener Gast? Als ich mich zurückziehen will, fleht meine Tochter, ich solle doch bitte bleiben. Auch Bojan bittet scheu darum.