20. April
In der Schweiz blühen Bäume und Wiesen, dem Frühling ist das Metzeln und Morden anderswo in Europa egal.
Heute, bei unserem zweiten Treffen in Rafz, drängt es Nataliia zu erzählen. Als könne sie damit ein Flussbett schaffen, das die Fluten an Gefühlen kanalisiert, eine Einordnung finden für die Kräfte, die auf sie einstürmen.
«Wenn ich allein wäre», sagt Nataliia, «würde ich sofort zurückkehren und kämpfen.» Aber ihren Kindern will sie ihr Herkunftsland nicht zumuten. Für sie bleibt sie in der sicheren Schweiz. Für ihre Kinder bleibt sie stark. Für sie hält sie tagsüber die Tränen zurück, erlaubt sich, nur nachts zu weinen, wenn die beiden schlafen.
Der Krieg wird hässlicher. In Mariupol sind die Menschen eingekesselt. Weil Hilfsorganisationen es nicht schaffen, humanitäre Korridore zu errichten, verhungern und verdursten die Bewohner der Stadt.
Über Whatsapp schildert ihr Mann Nataliia, wie er bei Bombenalarm in Lwiw Schutz in der Garage sucht – einen Luftschutzkeller gibt es nicht. Deshalb komme es nicht darauf an, ob sein ewiges Grab nach einem Bombeneinschlag im Keller oder zwischen den Autos liegen werde.
Auch mit ihrer Mutter whatsappt Nataliia täglich, sie hat ein enges Verhältnis zu ihr. Doch überreden zur Flucht konnte sie sie nicht. Ihre Mutter wollte in ihrem Vorstadthäuschen in Tscherwonograd nahe Lwiw zurückbleiben. Dort pflegt und bepflanzt die bald pensionierte Lehrerin ein kleines Stück Land mit Gemüse. Vergangenen Freitag schlug eine Bombe in der Nähe der Stadt ein. Man gewöhne sich daran, sagte die Mutter zu Nataliia am Telefon.
Bisweilen beschreibt Nataliia den Scherbenhaufen in ihrer Heimat nüchtern, dann wieder voller Verzweiflung und Wut. Ihr Leben ist in den Grundfesten erschüttert. Sie fühlt sich hilflos und ausgeliefert, hat kaum Optionen zu entscheiden, wie es weitergehen soll. Immer wieder ploppt der Gedanke auf, einen Bus zurück in die Ukraine zu besteigen. Zurück zu ihrem Mann und ihrer Mutter. An das erfüllte Leben zuvor anzuknüpfen. Doch sie schiebt diese Idee als Illusion beiseite. Die Vergangenheit ist tot.
Wie nicht verrückt werden, angesichts dieser Zerrissenheit und aussichtslosen Lage? Auf die Frage hin lacht Nataliia kurz auf und greift nach dem Handy auf dem Tisch: «Innerlich alterte ich um 100 Jahre», sagt sie und zeigt ein Selfie vom gestrigen Tag, auf dem sie mit verquollenen Augen und zerzausten Haaren in die Kamera blickt. «Die Kinder halten mich am Leben. Und ich glaube an Gott, das hilft.» Allabendlich um 20 Uhr nimmt sie online an den Gebeten eines jungen Priesters teil. Hunderttausende Ukrainer* innen hören ihm zu, finden für Momente Trost und Ruhe in ihrem Dasein, das fragmentiert vor ihnen liegt wie ein zerbrochener Krug.