Pro Jahr werden 500 bis 700 Kinder von einem Elternteil entfremdet. Laut Kokes, der Konferenz für Kindes- und Erwachsenenschutz, sind jedes Jahr rund 12400 Kinder von einer Scheidung oder Trennung betroffen. Etwa fünf Prozent davon verlaufen hochstrittig. In solchen Fällen findet oft Entfremdung statt, in rund 90 Prozent durch die Mutter.
Die Gründe, warum ein Kind sich von einem geliebten Elternteil abwendet, können laut der Kindesschutz Organisation Schweiz Kisos Schuldgefühle, Loyalitätskonflikte und Verlustängste sein. Das Kind steht im Mittelpunkt des Elternkonflikts, denkt, es sei der Anlass zum Streit und gibt sich die Schuld daran. Dabei erlebt es widersprüchliche Gefühle. Es möchte beide Eltern sehen. Spricht es aber seine Gefühle aus («Ich will zu Papa»), hat es Angst, die Mutter zu verletzen, traurig zu machen und/ oder sie zu verlieren. Das Kind übernimmt die Gefühle desjenigen Elternteils, bei dem es häufiger ist. Es spaltet sich, auch aus Selbstschutz, von dem ausserhalb lebenden Elternteil ab.
Noah war kein Wunschkind. Doch die Eltern lieben das Baby. Die Mutter geht voll in ihrer Aufgabe auf, der Vater geht zur Arbeit. Nichts traut sie dem Mann zu, beim Wickeln ist sie genauso dabei wie beim Spielen. Alle Bestrebungen, mit Noah allein etwas zu machen, laufen ins Leere. Bei Konflikten knallt sie die Tür. Nach der Trennung erlaubt sie nicht, dass er ihn zu sich nach Hause nimmt. Der Vater besucht das Kind bei ihr daheim.
Die Kesb entscheidet für Vater und Sohn, verfügt als Erstes einen mehrstündigen Aufenthalt, jeden zweiten Samstag. Ab dem Kindergartenalter verbringt Noah jedes zweite volle Wochenende beim Papa. Noah ist ein unkompliziertes Kind. Lachen, blödeln, auf Bäume klettern, der Vater meist voraus. Das gefällt dem Buben. «Nein, Mama, ich will nicht nach Hause, ich komme ja morgen wieder», sagt Noah. Die Mutter besteht auf die regelmässigen Anrufe an Papa-Wochenenden. «Ja, mir gefällts…wir spielen einfach… ich hab dich auch lieb…ja, wenn was ist, ruf ich an.» Wenn der Vater das Kind zurückbringt, gibts von der Mutter ein Geschenk.
Die Mutter bekommt ein zweites Kind. Noah soll zum neuen Partner auch Papi sagen. Schliesslich sind sie jetzt eine komplette Familie. Noah sieht, wie der Vater gekränkt ist, als ihm ein «Papi» rausrutscht und er den anderen Mann meint. Später wird die Kinderpsychologin sagen, dass Noah nicht weiss, zu wem er Papi sagen soll.
Bei der Eltern-Kind-Entfremdung kann unterschieden werden zwischen der induzierten Entfremdung, auch Parent Alienation (PA) genannt, und der Eltern-Kind-Entfremdung (EKE). Bei PA lassen sich bei den manipulierenden Bezugspersonen häufig psychische Auffälligkeiten identifizieren wie schwere narzisstische und/oder Borderline-Persönlichkeitsstörungen, traumatische Kindheitserfahrungen, paranoide Verarbeitung der Scheidungskrise und/oder Psychosen. PA wurde von der WHO im Juni 2018 offiziell anerkannt als psychische Störung des betreuenden Elternteils.
EKE ergibt sich oft aufgrund monate- und jahrelangen Streitigkeiten der Eltern um das Sorge- und Obhutsrecht. Eltern gelingt es nicht mehr, die Paarebene von der Elternebene zu trennen, oft spielen Frustrationen, Wut und Kränkungen eine Rolle. Wilfrid von Boch-Galhau, Psychiater und Psychotherapeut in Würzburg (D), bezeichnet Entfremdung und den Kontaktabbruch zu einem Elternteil grundsätzlich als «ernst zu nehmende Form psychischer Kindesmisshandlung»