detail

«Mit Kindern Achtsamkeit üben»

Wie bringt man seinen Kindern bei, Gefühle wahrzunehmen und in schwierigen Momenten gelassen zu bleiben? Achtsamkeit ist ein Schlüssel dazu. Tipps für Kleinkinder, Schulkinder und Teenager.

detail

«Mit Kindern Achtsamkeit üben»

Wie bringt man seinen Kindern bei, Gefühle wahrzunehmen und in schwierigen Momenten gelassen zu bleiben? Achtsamkeit ist ein Schlüssel dazu. Tipps für Kleinkinder, Schulkinder und Teenager.

Die kleine Lena ist frustriert: Eben hat sie begonnen, die Brio-Bahn zusammenzubauen – und jetzt soll sie schon ins Bett? Ihre Protestschreie sind im ganzen Haus zu hören. Wie können Lenas Eltern sie beruhigen?

Mit Nichts», ist die überraschende Antwort von Sandra Cortesi, Achtsamkeitslehrerin für Kinder und Erwachsene. «Es gilt lediglich, da zu sein.» Achtsamkeit bedeutet, eine wohlwollende Atmosphäre zu schaffen für das Kind – aber auch für sich selber. In Mindfulness – englisch für Achtsamkeit – geübte Personen schaffen es, in wenigen Atemzügen, die eigenen Emotionen zu erkennen und anzuerkennen. Wenn also die Wut hochkocht angesichts von Lenas widerspenstigem Verhalten, sollten ihre Eltern diese wahrnehmen und mit Selbstmitgefühl darauf reagieren. Wir alle wissen, dass Ausflippen schnell in eine Eskalationsspirale führt. 

Für Sandra Cortesi ist klar: Achtsamkeit können Eltern ihren Kindern dann am besten vermitteln, wenn auch sie selbst eine Idee davon haben. Was aber ist Achtsamkeit? Darüber wurden ganze Bibliotheken mit Büchern gefüllt. Sandra Cortesi definiert es so: «Achtsamkeit bedeutet, eine Grundhaltung liebevoller Freundlichkeit gegenüber sich selbst und der Umwelt einzunehmen.» Für die Pädagogin und Gründerin von Mindfulness Ticino bedeutet Achtsamkeit auch, im Hier und Jetzt zu leben: «Als Eltern ist unsere Präsenz gefragt und die Bereitschaft, die Kinder bei ihrer ständig sich wandelnden Entwicklung zu begleiten.» So sollten sich die Eltern von Lena fragen: Was löst die wütende Reaktion meines Kindes in mir selber aus? Warum reagiere ich mit Verärgerung? War ich vielleicht vorher schon aufgebracht? Das Reflektieren über die eigenen Gefühle beruhigt. Dann können Eltern mit einfachen und klaren Worten den schwierigen Moment beschreiben und die Emotionen benennen. Hat sich die Lage etwas beruhigt, können sie Lena zum Beispiel auffordern, zusammen eine «Garage» für den kleinen Zug zu bauen, in der sich dieser «schlafen legen» kann. Auch die echten Eisenbahnen fahren ja nicht die ganze Nacht.

Emilia fühlt sich unter anderen Kindern oft unwohl. Sie ist gehemmt und möchte sich am liebsten verkriechen. Die Kindergartenlehrperson hat Emilias Vater darauf hingewiesen, dass sie die Schüchternheit vor Schuleintritt unbedingt überwinden sollte. Nur wie soll das gehen?

Aus dem Mund der Kindergartenlehrperson klingt es, als sei die Schüchternheit von Emilia ein Defekt. Ist sie aber nicht – sie gehört zunächst zu Emilia. In der Achtsamkeitstheorie funktioniert es nicht, einen Wesenszug einfach wegknipsen zu wollen. Vielmehr sollte man diesen anerkennen und begreifen, dass Schüchternheit gegenüber Gleichaltrigen nur ein kleiner Teil von Emilias Charakter ist – da sind noch viele andere Wesenszüge. Konkret kann Emilias Vater sie unterstützen, indem er sie sanft ermuntert, Kinder einzuladen oder an Geburtstagen teilzunehmen. Er kann ihr anbieten, sie zu begleiten und ihr versprechen, nach Hause zurückzukehren, wenn es ihr zu viel wird. 

Sandra Cortesi empfiehlt Achtsamkeitsmeditation für Kinder. Dabei soll die Aufmerksamkeit bewusst und wertfrei auf den gegenwärtigen Moment gerichtet werden. 

Aber: Gerade jüngere Kinder verbringen doch den Alltag oft ganz im Hier und Jetzt! Müssen sie da wirklich noch Achtsamkeit trainieren? «Ja», sagt Sandra Cortesi. «Die Forschung zeigt, dass Kinder mit entsprechenden Übungen konzentrierter sind, sich emotional besser managen können und beziehungs- und kommunikationsfähiger werden.» Dafür braucht es allerdings nicht zwingend Kurse; im Internet findet man unzählige Anleitungen für Übungen, die Eltern ganz leicht zwischendurch zu Hause mit ihren Kindern praktizieren können.

Gian trainiert in einem Leichtathletik-Club, seine Lieblingsdisziplin ist der Kurzstrecken-Sprint. Doch seit einer Weile wird er vor dem Start immer nervöser und will nicht mehr an Wettkämpfen teilnehmen. Wie können seine Eltern ihm helfen?

Gian zeigt eine natürliche Reaktion auf eine angstauslösende Situation: Er vermeidet sie. Allerdings verstärkt das Vermeiden die inneren Widerstände, Gian mag immer weniger an Wettkämpfen teilnehmen. Seine Eltern sollten jetzt vor allem eines: Einfühlungsvermögen zeigen. Gian setzt sich womöglich zu sehr unter Druck. Laut der Pädagogin Sandra Cortesi gehört es auch zum Jugendalter, sich manchmal in negativen und selbstkritischen Gedanken zu verlieren. Die Eltern könnten Gian vermitteln, dass Gedanken wie Wolken am Himmel kommen – und auch wieder wegziehen. Gian kann üben, die dunklen Wolken als Gedanken zu erkennen und sie loszulassen. Anstatt sie zurückzudrängen oder zu ignorieren, kann er sogar versuchen, die dichten, schweren Wolken zu erzeugen – um sie danach vorüberziehen zu lassen, bis er den blauen Himmel wieder sieht. 

Wer regelmässig übt, die Aufmerksamkeit ganz in der Gegenwart zu bündeln, kann sogar die Architektur seines Gehirns verändern. Forscher:innen fanden heraus, dass die Dichte der grauen Gehirnsubstanz im Hippocampus schon nach acht Wochen Training messbar zunimmt. Diese Gehirnstruktur ist für das Gedächtnis wichtig. Bei Dauerstress hingegen bildet sie sich zurück.

Weitere Informationen

plus

Achtsamkeitstraining für Kleinkinder

• 3-Jährige leben noch ganz im Moment. Sie sind achtsamer als jeder Erwachsene. Also viel Zeit zum Spielen und Beobachten geben. 

• Legt euch nebeneinander auf den Boden und setzt je eine Puppe auf eure Bäuche. Beobachtet nun, wie sich die Puppen mit dem Ein- und Ausatmen heben und senken. Die Übung hilft, die Atmung zu beruhigen. 

• Auf einem «Gefühlsrad» zeichnet man Gesichter von verschiedenen Emotionen – wütend, lachend, traurig, erschrocken usw. Kinder und Erwachsene können am Rad ihre Gefühle anzeigen und benennen.

Weitere Informationen

plus

Achtsamkeitstraining für Schulkinder

• Eine kleine Entspannung für zwischendurch: Dein Kind legt sich auf den Rücken und schliesst die Augen. Bei den Zehen beginnend soll es nun bei jedem Körperteil auf die Empfindungen achten und diese beschreiben. Körper-Scan fördert die Körperwahrnehmung und entspannt. 

• «Was tönt denn da?» Draussen unterwegs kurz innehalten und das Kind auffordern, auf die Geräusche in der Umgebung zu achten: Zwitschern Vögel? Rauscht der Wind? Ist von weitem eine Ambulanz zu hören? Prima für die Schärfung der Sinne! 

• Vor dem Biss in den Apfel oder die Banane das Kind die Frucht begutachten, befühlen, beschnuppern lassen; dann langsam kauen und über den Geschmack und die Textur sprechen. Alle Übungen spielerisch und ohne Druck machen!

Weitere Informationen

plus

Achtsamkeitstraining für Teenager

• Ein Achtsamkeitstagebuch hilft, Gedanken, Gefühle und Beobachtungen festzuhalten und sie zu reflektieren: Welche Ereignisse des Tages machten mich glücklich? Wer hat genervt? Was hat mich traurig gemacht? 

• Fordere das Kind auf, mehrmals pro Tag innezuhalten und sich auf seine Gefühle zu konzentrieren. Mit der simplen Frage: «Wie fühle ich mich gerade?» Das Benennen der Emotionen schärft die Selbstwahrnehmung und das Selbstbewusstsein. 

• Eine einfache Atemmeditation beruhigt. Hinsetzen und ganz ruhig ein- und ausatmen und dabei still immer wieder auf 4 zählen. Wenn die Gedanken abschweifen, ohne zu urteilen, wieder in den Zählrhythmus zurückgelangen.

Manuela von Ah

Manuela von Ah

Manuela von Ah hat Ethnologie und Wirtschaft studiert. Für «wir eltern» schreibt sie über Erziehung und Familienpolitik, berichtet aus dem Gebärsaal, aus Kitas und Klassenzimmern – und erzählt, was Mütter und Väter auf dieser Welt bewegt.




Alle Artikel von Manuela von Ah

Leseempfehlung


tile

«Wir wollen unsere jungen Patienten stärken»

Viele psychische Erkrankungen beginnen bereits in jungen Jahren. Wenn Kinderseelen leiden, kann ein Aufenthalt in einer Tagesklinik helfen.



Zum Artikel
tile

«Mut ist eine Superkraft»

«Ich trau mich nicht!» – diesen Satz hören Eltern oft. Aber wie lernen Kinder, sich trotzdem etwas zuzutrauen? Was sie stark macht und warum auch Angst dazugehört.


Zum Artikel