Überhaupt übernimmt er alles, was mit sehenden Augen «gäbiger» zu erledigen ist: Fingernägelchen schneiden, Kleider auf Schmutzflecken hin absuchen, Surya das Laufradfahren beibringen. Ein engagierter Vater. Über Sirnone Rentschs stets halbgeschlossene Augen gleitet ein Lächeln, wenn sie von der ersten Begegnung erzählt. Im Tandemverein suchte man nach neuen Piloten - Fahrer, die vorne sitzen. Sirnone wurde der Mann mit der sympathischen Stimme zugeteilt. Schon auf der ersten Fahrt spürte sie: Der Rhythmus stimmt. Der trockene Humor auch. «Hast du 9/11 schon gesehen?», fragte Sirnone ihn kurz nach der Premierenfahrt Nach dem Kinobesuch diskutierten die beiden bis spät in die Nacht über den dialogreichen Film. Seither bedeutet der Mann an ihrer Seite Sirnone viel mehr als der Ersatz für das fehlende Augenlicht.
Nach dem Mittagessen will Surya «Zu den Fischen», das Synonym für den Tierpark Dählhölzli in Bern. Ein Unterfangen, das Sirnone Rentsch nur bieten kann, wenn jemand sie begleitet. Das Laufgeschirr ist unabdingbar, die Mutter zieht es Surya stets an, bevor sie das Haus verlässt. Andere mögen sich angesichts des «Gschtältli» über das beschnittene Freiheitsgefühl der Kinder ereifern, für Surya ist es überlebenswichtig. Sirnone Rentsch hält die Leine eng um die linke Hand gewickelt, ihre rechte schwingt den Blindenstock in kleinem Radius hin und her. Tock, tock, tock, ein Meter gefühlte Sicherheit, dahinter Stimmfetzen, Dröhnen, Hupen, Brummen - die Stadt als kakofonischer Moloch.
Niemand achtet auf das kleine Händchen, das sich am Fussgängerstreifen aufspannt und den Autos anzuhalten gebietet. Eine Gewohnheit vom Land. Auf den verkehrsreichen Strassen aber regieren die Ampeln: rot, grün, rot. Für Surya ist die Blickdistanz über die Hauptstrasse zu gross, zu abgelenkt sind die Kinderaugen vom Trubel und Treiben. Für Sirnone Rentsch Stress pur. Sie ist angewiesen auf die gelben Blindenvibratoren, auf die weissen Leitlinien am Boden, auf die Hilfe von Passanten.