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«Hört auf, Kinder zu Entschuldigungen zu zwingen!»

Dauernd sollen sich kleine Kinder entschuldigen. Ist das überhaupt sinnvoll und tun sich nicht vor allem die Erwachsenen damit schwer? Eine Anleitung, wie Sorrysagen funktioniert (für die Grossen).

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«Hört auf, Kinder zu Entschuldigungen zu zwingen!»

Dauernd sollen sich kleine Kinder entschuldigen. Ist das überhaupt sinnvoll und tun sich nicht vor allem die Erwachsenen damit schwer? Eine Anleitung, wie Sorrysagen funktioniert (für die Grossen).

Neulich auf dem Spielplatz: Ein Dreijähriger baut seit einer halben Stunde ausdauernd und konzentriert an einer Sandburg, als ein etwa gleichaltriges Mädchen herbeistürmt und jauchzend in die Burg springt. Nach einer Schocksekunde fängt der Bub an zu weinen, gleichzeitig eilt der Vater des Mädchens herbei, packt es am Arm und zischt: « Sag sofort Entschuldigung !» Es ist ein Satz, den Kinder häufig hören. Aber bringt er überhaupt etwas ? Oder drückt sich darin eher die Not der Erwachsenen aus, die einen Konflikt zwischen Kindern beobachten und glauben, sich einmischen zu müssen ? Im Sandkasten jedenfalls stehen wenige Sekunden später zwei weinende Kinder – flankiert von hilflosen Elternteilen. 

Kleine Kinder sind überfordert

Tatsächlich überfordern wir Kinder häufig mit der Aufforderung «Entschuldige dich ! », sagt Irina Kammerer. Sie ist kognitive Verhaltenstherapeutin und leitet den Bereich Beratung und Therapie für Kinder, Jugendliche und Familien am Psychotherapeutischen Zentrum des Psychologischen Instituts der Universität Zürich. Das Problem: «Eltern sind oft in der Erwachsenenperspektive unterwegs und gehen davon aus, dass Kinder den Unterschied kennen zwischen erwünschtem Verhalten und Fehlverhalten.» In der Realität wissen das die Kleinen jedoch häufig (noch) nicht. « Soziales Lernen ist ein langer Prozess, bei dem vor allem kleinere Kinder von ihren Bezugspersonen begleitet werden müssen.» 

Zuerst Empathie lernen

Keine Frage, die sozio-emotionale Erziehung ist wichtig. «Kinder sollen lernen, dass ihre Handlungen anderen schaden und wehtun können», so die Verhaltenstherapeutin. Doch um sich zu entschuldigen und angerichteten Schaden wiedergutzumachen, muss der Nachwuchs zunächst lernen, sich in andere hineinzuversetzen und fremde Perspektiven zu übernehmen.

Die Grundlagen dazu sind in der kindlichen Entwicklung bereits früh angelegt. Schon ein Zweijähriges begreift, dass Paul traurig ist, weil seine Sandburg zerstört wurde. «Was jedoch nicht heisst, dass das Kind dann schon weiss, was es braucht, damit sein Gspänli nicht mehr traurig ist », schränkt Kammerer ein. Auch die Floskel «Entschuldige dich ! » verstehe ein Kleinkind nicht. Deshalb plädiert die Therapeutin dafür, den Nachwuchs in solchen Fällen weniger zu bedrängen und mehr zu begleiten. 

Weniger bedrängen, mehr begleiten  

Konkret bedeutet dies: In der Sandburg-Situation sollte der einschreitende Elternteil erst mal aufdröseln, was am Verhalten nicht stimmig ist, so Kammerer. Statt direkt zu fordern: «Entschuldige dich sofort ! », gelte es zunächst, gemeinsam zu reflektieren: «Was denkst du, wie fühlt sich Paul, wenn du seine Sandburg kaputtmachst ? » Und in einem nächsten Schritt zu überlegen: «Wie könntest du das wiedergutmachen ? Vielleicht, indem du sagst: ‹Es tut mir leid ?›» Nach und nach lernen Kinder so: « Habe ich etwas gemacht, was nicht ok ist, gibt es eine Art der Wiedergutmachung. » 

«Tut mir leid» sei dabei die bessere Formulierung, findet die Therapeutin: In «Entschuldigung» stecke das Wort «Schuld» drin, bzw. dass etwas absichtlich gemacht wurde. Dabei handeln Kinder nicht aus Bosheit, sondern müssten erst lernen, welches Verhalten ok ist und welches nicht. 

Doch zurück zum «sag Entschuldigung!»Reflex, der Aufsichtspersonen gerne ereilt, sobald sie Kinder in konfliktträchtigen Situationen wähnen. «Mit dieser Aufforde­rung wollen Erwachsene ihnen anvertraute Kinder in der Regel erziehen», beobachtet Philipp Ramming. Er arbeitet seit 30 Jahren als Kinder- und Jugendpsychologe und war Präsident der Schweizer Vereinigung für Kinder- und Jugendpsychologie.

Manchmal reagierten Erwachsene in solchen Situationen allerdings auch aus Scham: «Benimmt ein Kind sich nicht, wie es die Gesellschaft erwartet, schämen sich die verantwortlichen Erwachsenen für ihre angeblich mangelnde Erziehungskompetenz.» Weil sie selbst nicht sozial ausgeschlossen werden wollen, komme es zu diesem reflexartigen Ausspruch. 

Angst vor dem sozialen Ausschluss  

Generell spielt das Lösen von Konflikten eine zentrale Rolle beim Aufwachsen. Zentral ist dabei die Vorbildfunktion der Eltern: «Mutter und Vater können so viel reden, wie sie wollen – am Ende machen Kinder das nach, was diese ihnen vorleben», so Ramming. Deshalb sei es so wichtig, dass Eltern über ihre Emotionen sprechen, damit der Nachwuchs lernt, seine eigenen Gefühle zu erkennen und diese auch in anderen wahrzunehmen. Dass Mutter und Vater beispielsweise sagen: «Mein Tonfall eben war nicht in Ordnung. Tut mir leid, dass ich laut geworden bin.» 

 

Viele Erwachsene sind selbst katastrophal darin sich zu entschuldigen

 

«Kinder, die solch eine natürliche Fehlerkultur im familiären Kontext erleben, akzeptieren und verstehen soziale Regeln besser», so der Psychologe. Sich richtig zu entschuldigen, sei allerdings etwas vom Schwierigsten. «Viele Erwachsene sind selbst katastrophal darin», findet Ramming. Schliesslich kostet es häufig Überwindung, sich seine Fehler einzugestehen. Gleichzeitig ist es ein Zeichen grosser Stärke, wenn man sich entschuldigt, Rückgrat zeigt und Verantwortung für sein Verhalten übernimmt (siehe Kasten). Auch Kinder lernen dies nicht von heute auf morgen 

Immerhin: Geht es darum, eine Entschuldigung anzunehmen und zu vergeben, sind Kinder meist viel schneller als Mutter und Vater. Auch der Dreijährige im Sandkasten vergisst rasch die zerstörte Burg, als das gleichaltrige Mädchen zur Schaufel greift, um den Schaden wiedergutzumachen. Entschuldigen geht eben auch nonverbal – über Wiedergutmachung. Und laut Forschung ist das auch die effizienteste Form, nicht nur bei Kindern.

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plus

So funktioniert eine richtig gute Entschuldigung  

1 Verantwortung übernehmen  
Sich selbst und anderen gegenüber Fehler eingestehen, ist schon mal ein sehr guter Anfang einer Entschuldigung. 

2 Benennen, wofür man sich entschuldigt  
Je genauer du benennen kannst, wofür du dich entschuldigen willst, desto glaubwürdiger ist deine Entschuldigung. Also nicht: Es tut mir alles so leid. Sondern: Es tut mir leid, dass ich mit meiner Vergesslichkeit deine Gefühle verletzt habe. 

3 Wiedergutmachung anbieten  
Wichtiger als eine übertrieben grosse Geste ist eine Wiedergutmachung. Also das kaputtgegangene Velo reparieren, die fleckige Bluse waschen, ein Paarwochenende organisieren. 

4 Kein «Aber» verwenden  
Ein «Aber» in einer Entschuldigung schreit förmlich nach Ausrede und leitet nur weitere Anschuldigungen ein. Deshalb unbedingt vermeiden! Keine Ausreden, keine Ausflüchte! 

5 Zuhören  
Die beste Entschuldigung ist klar und kurz. Sonst besteht die Gefahr, sich wieder in Ausflüchten zu verlieren. Viel wichtiger: zuhören, was die andere Person zu sagen hat. Schliesslich geht es um deren verletzte Gefühle. 

6 Sich Mühe geben, damit es nicht wieder vorkommt  
Der Abschluss einer Entschuldigung ist in der Regel die Aussicht auf eine bessere Zukunft. Betone also, dass du von nun an besser auf dein Verhalten achten willst. Du verstanden hast. 

7 Mit Entschuldigungen haushalten  
Entschuldigungen sind wichtig; aber werden sie inflationär verwendet, verlieren sie an Kraft. Deshalb: Nur gezielt, aber konsequent einsetzen.

Kristina Reiss

Kristina Reiss

Einst Redaktorin beim «Tages-Anzeiger», später Korrespondentin in Shanghai, schreibt Kristina Reiss heute als freischaffende Journalistin leidenschaftlich über den Mikrokosmos Familie. Dabei interessiert sie sich für alles, was Menschen bewegt – ihre Wünsche, Sehnsüchte, Ängste und Hoffnungen.




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