Freundliche, wohlerzogene Kinder, eine harmonische Paarbeziehung, ein friedliches Familienleben – das wünschen wir uns, und manche Familien scheinen diesem Bild zu entsprechen. Doch bei genauerem Hinsehen bröckelt bei vielen die Fassade, rumpelt es in der Beziehungskiste, kränkelt das ganze Familiensystem.
Eine bewährte Methode, Konflikte zu verstehen, zu lösen und private wie berufliche Beziehungen zu verbessern, ist die Gewaltfreie Kommunikation. Sie versteht sich nicht als Technik, die uns hilft, andere Menschen virtuoser nach unserer Pfeife tanzen zu lassen, sondern ist vielmehr eine Haltung, um einander authentisch zu begegnen. «Gewaltfreie Kommunikation bedeutet, eine andere Sichtweise einzunehmen und zu verstehen, was mich selbst und den anderen wirklich bewegt», sagt Michael Peuckert, Trainer und Ausbildner für Gewaltfreie Kommunikation (GFK) in Basel. Dabei hilft es, die Bedürfnisse zu identifizieren, die allen Menschen gemein sind und die uns miteinander verbinden – etwa nach Sicherheit, Lebendigkeit, Autonomie, Intimität oder Verständnis. «Werden unsere Bedürfnisse erfüllt, sind wir entspannt oder wir freuen uns. Passiert das Gegenteil, sind wir unsicher, niedergeschlagen, ärgern oder ängstigen uns», so Peuckert.
Oder rebellieren und kämpfen mit allen Mitteln, damit wir bekommen, was wir wollen. Wie die 6-jährige Marie, Tochter von Sladjana Bösch (40). «Marie hatte schon immer einen bemerkenswerten Willen, sie ist ein Kind, das mit dem Kopf durch die Wand geht», sagt die 40-jährige Rettungssanitäterin. Mutter und Tochter gerieten deshalb immer wieder aneinander. «Wenn Marie mir nicht zuhörte oder machte, was ich verlangte, wurde ich laut.» Bloss: Das Mädchen gehorchte nicht, im Gegenteil, es zog sich zurück und die Beziehung zwischen Mutter und Tochter litt.
Machtkämpfe mit dem Kind
Seit diesem Frühling besucht Sladjana Bösch deshalb einen Kurs in Gewaltfreier Kommunikation für Eltern. Und merkt jetzt, in welche Machtkämpfe sie sich mit ihrer Tochter verstrickt, wie oft sie deren Bedürfnisse gar nicht wirklich erkannt hatte. «Rückblickend kann ich nur den Kopf schütteln», sagt Sladjana Bösch mit Bedauern in der Stimme. «Mein Erziehungsstil war diktatorisch – ähnlich wie ich selbst erzogen wurde.»
Kürzlich konnte die Mutter eine eskalierende Situation jedoch stoppen und ihr eine neue Wendung geben. Draussen regnete es, Marie musste in den Kindergarten, wollte aber keine Regenhose anziehen. Sie brüllte, weigerte sich und warf sich verzweifelt auf den Boden. Normalerweise hätte sich die Mutter durchgesetzt, stattdessen fragte sie: «Was ist eigentlich so schlimm an dieser Regenhose?» Maries Antwort war einfach und nachvollziehbar: «Ich finde mich nicht schön darin!» Als Sladjana Bösch realisierte, wie wichtig ihrer Tochter ihr Aussehen war, offenbar viel wichtiger als ihr selbst, liess sie Marie mit dem Schirm loslaufen, gab ihr die Regenhose aber im Rucksack mit. Und erlaubte ihr, selber zu entscheiden, ob sie mit oder ohne Regenhose in die Kindergartenpause ging.
Zweimal kam die Regenhose trocken zurück. Am dritten Tag jedoch war sie nass. Auf die Nachfrage der Mutter meinte Marie: «Ich wollte keine schmutzigen Kleider bekommen.» Sladjana Bösch freute sich derart, dass sie ihren Mann anrief, um das Erfolgserlebnis mit ihm zu teilen. Am Abend, als der Vater nach Hause kam, hob er Marie in die Luft und lobte sie. Auch der 3-jährige Bruder, der ebenfalls glücklich war über den gelösten Konflikt, stimmte mit ein und rief: «Super, Marie!»