wir eltern: Herr Lettieri, ich möchte mit Ihnen über Wertschätzung reden. Haben Sie grad eine Definition parat?
Raimondo Lettieri: Wertschätzung ist das Gegenteil von Kritik. Es ist Lob und Anerkennung. Dahinter steckt das Bedürfnis, wahrgenommen zu werden. Aber für die Praxis sind solche Definitionen selten hilfreich.
Warum das?
Als Therapeut interessiert mich nicht so sehr, was Wertschätzung ist, sondern vielmehr, welche Wirkung sie hat. Während der eine nicht mal registriert, dass er wenig Wertschätzung bekommt, kann das Fehlen von Wertschätzung beim anderen schwere Verletzungen aktivieren.
Wann haben Sie in Ihrer Praxis mit Wertschätzung zu tun?
Sehr oft bei Konflikten rund um die Arbeitsteilung von Mann und Frau mit traditioneller Rollenteilung: Er arbeitet 80 bis 100 Prozent, sie 20 bis 40 und managt daneben die Familie. Da zeigt sich der Klassiker: Sie ist oft frustriert, weil ihr Einsatz zu Hause zu wenig geschätzt wird. Arbeiten beide 100 Prozent und daheim passt die Nanny auf, ist das weniger der Fall.
Wie wichtig ist Authentizität beim Wertschätzen?
Sie ist unabdingbar. Besonders Kinder haben ein feines Sensorium dafür, aber auch Erwachsene spüren das. Unaufrichtige Wertschätzung wirkt eher verunsichernd. Loben Sie darum nur, wenn Sie es auch so meinen.
Nicht mal dem Haussegen zuliebe?
Auf keinen Fall. Es gibt die Gottman-Konstante, die besagt, dass in einer glücklichen Beziehung das Verhältnis von positiven und negativen Signalen mindestens bei 5 zu 1 liegen muss. Davon ausgehend könnten Sie Ihrem Partner nun einfach nach jedem kritischen Wort fünf Komplimente machen. Aber das wird nicht funktionieren, denn wenn Sie es nicht wirklich meinen, kommt es nicht an. Was oder wie Sie etwas sagen, ist nicht ausschlaggebend, sondern die Emotionen, die das Ganze begleiten.
Wenn ich mich aber verbessern möchte…
Wenn Sie zur Einsicht kommen, «ich könnte mehr Wertschätzung geben und ich möchte das trainieren, weil ich sozusagen auf diesem Muskel schwach bin», kann das etwas bringen. Spüren Sie aber, dass es nicht von Herzen kommt, müssen Sie sich fragen, warum das so ist.
Und vielleicht eher weniger kritisieren?
Schauen Sie: Ich würde grundsätzlich eine Verhaltens- und eine Erlebensebene unterscheiden. Nur auf der Verhaltensebene anzusetzen, bringt nichts. Das ist ja das, was viele denken: Ich gehe jetzt zum Paartherapeuten und der sagt mir, was ich anders machen muss. Aber zuerst geht es darum, herauszufinden, wie und weshalb Sie das so machen, was Sie machen.