Kein Anspruch auf den Enkel
In der Schweiz leben etwa 19'000 Kinder unter 15 Jahren nicht bei ihren leiblichen Eltern. Die meisten sind in Institutionen untergebracht, rund 5000 bei Pflegefamilien, davon etwa ein Drittel bei Verwandten. Da aber viele Pflegeverhältnisse in der Verwandtschaft nicht gemeldet sind, dürfte die tatsächliche Anzahl höher sein. Generell haben Grosseltern keinen Anspruch auf ihre Enkel – umgekehrt aber auch keine Verpflichtungen im rechtlichen Sinn. Dies gilt auch für Tanten, Onkel, Geschwister, Götti und Gotte. Grosseltern werden bei einer sogenannten Platzierung also nicht bevorzugt. «Sind sie jedoch bereit und in der Lage, lehnt eine Behörde nicht ohne Not ab», sagt Christoph Häfeli, emeritierter Professor und ehemaliger KESB-Berater. Grosseltern springen in der Regel ein, wenn der Babysitter nicht kann, stecken Enkeln Süsses zu und loben für Dinge, die für Eltern selbstverständlich sind. Solche Verwöhngrosseltern können Corinne und Peter Bucher nicht sein. Sie müssen auch mal schimpfen und Grenzen setzen, kurz: den Spagat schaffen zwischen Eltern- und Grosselternerziehung. «Natürlich hatten wir uns das anders vorgestellt», sagt Peter Bucher. «Wir wollten den Kleinen höchstens ab und zu übers Wochenende nehmen. Aber nun ist es eben so.»
Den Kontakt zur Mutter halten
Luis’ Vater lebt mittlerweile ein paar Strassen weiter und schaut oft bei seinem Sohn vorbei. Eineinhalb Tage die Woche verbringt der Bub bei seiner Mutter, die im selben Ort im Kanton Solothurn lebt. Jede zweite Woche übernachtet er bei ihr. «Damit der Kontakt nicht abreisst», sagt Corinne Bucher. Sie findet das gut. Manchmal sei Luis danach ziemlich durch den Wind und es dauere ein paar Tage, bis er wieder durchschlafe.
«Mami!», ruft Luis, zupft Corinne Bucher am Ärmel, verbessert sich aber rasch: «Oma!» Er will mit ihr endlich den Papierflieger testen. Ein grosses, helles Kinderzimmer haben seine Grosseltern für ihn eingerichtet, mit Rennauto-Bett, Spielteppichen und jeder Menge Spielsachen. «Ich denke nicht, dass Luis schon weiss, wer sein Mami ist», sagt Corinne Bucher. «Aber wir achten auf die richtige Bezeichnung.» Manchmal hingegen glaubt sie, er versteht doch mehr: «Vielleicht ist er deshalb so anhänglich und will immer überall dabei sein. Es ist ja schon ein ziemliches Hin und Her.» Das Verhältnis mit seinen Eltern sei «im Prinzip okay», sagt sie diplomatisch. «Aber natürlich gibt es auch mal Stress.»
Pflegeeltern: Rechte und Pflichten
Für Grosseltern, die ihre Enkel in Pflege haben, gelten die gleichen Rechte und Pflichten wie für alle Pflegeeltern. Im Fall von Corinne und Peter Bucher hat die KESB zur Unterstützung ausserdem die Familienplatzierungsorganisation Familynetwork eingeschaltet. Bei dieser müssen die beiden einen Kurs für Pflegeeltern absolvieren, ausserdem besucht eine Familienbegleiterin der Organisation die Familie mindestens einmal im Monat.
Genauso oft müssen die Grosseltern protokollieren, was Luis alles erlebt, neues gelernt und wie oft er seine Eltern gesehen hat. Weil sie Pflegegeld bekommen, gilt es ausserdem in einem Haushaltsbuch aufzulisten, was sie für ihren Enkel ausgeben. «Für diesen Papierkram brauche ich jeweils einen kompletten Tag», sagt Corinne. «Es wird einem nicht gerade leicht gemacht, die Pflege für seinen Enkel zu übernehmen.»
Leibliche Eltern haben Sorgerecht
Hinzu kommt: Die Entscheidungsbefugnis von Pflegeeltern ist relativ klein. Sie können zwar über alltägliche Dinge bestimmen wie Bettzeiten oder den Menüplan. Doch das Sorgerecht bleibt bei den leiblichen Eltern, alle wegweisenden Entscheidungen fällen sie. Für Corinne und Peter Bucher heisst das: Gehen sie mit Luis zum Arzt, müssen sie sich vorher mit Beiständen und Eltern absprechen.
Dasselbe gilt, wenn sie mit ihrem Enkel übers Wochenende verreisen wollen, selbst wenn es nur innerhalb der Schweiz ist. «Das ist manchmal zermürbend», sagt Peter Bucher. So konnten sie sich zwar eigenständig zum MuKi-Turnen anmelden, aber dass Luis an zwei Vormittagen eine Spielgruppe besucht, was Corinne Bucher mehr Zeit zum Arbeiten lässt, ging nur mit Einverständnis der Eltern.
Corinne und Peter Bucher sind sehr junge Grosseltern, 47 und 44 Jahre alt, beide berufstätig – er als Gerüstbauer, sie als Reinigungskraft. Im MuKi-Turnen fällt nicht auf, dass hier Oma und Opa mitturnen. Dabei ist es schon eine Weile her, dass Corinne Bucher mit einem Dreijährigen durch Turnhallen sprang. Sie wurde mit 17 Jahren das erste Mal Mutter, hat drei Kinder grossgezogen und die Zeiten mit einem trotzenden Kleinkind lange hinter sich. Auch Peter Buchers Sohn aus einer früheren Beziehung ist erwachsen. Die Reaktionen aus dem Umfeld waren denn auch gemischt. Neben: «Toll, dass ihr das macht!», hörten sie: «Wollt ihr euch das wirklich nochmal antun?»