Mit etwa drei oder vier Jahren beginnen Kinder zu begreifen, was ein Geheimnis eigentlich ist. Voraussetzung ist «das Verständnis, dass es im Kopf eines anderen Menschen anders aussieht als im eigenen», sagt die Rechtspsychologin Renate Volbert, die sich schon seit vielen Jahren damit beschäftigt, wie Kinder mit Geheimnissen umgehen.
Die Fähigkeit, die man in der Psychologie als Theory of Mind bezeichnet, ist ein Meilenstein in der kindlichen Entwicklung: Kinder merken nun, dass der andere nicht unbedingt genau dasselbe weiss wie man selbst, dass sie ihr Gegenüber täuschen können. Spätestens jetzt ist ihnen unwiderruflich klar: Die anderen Kinder können mich auch dann sehen, wenn ich die Augen verdecke und selbst niemanden erblicke – das Ende von Gugusdada. Ein erster Geheimnisbegriff und das Vermögen, regelkonform Verstecken zu spielen, entwickeln sich laut Volbert entsprechend zeitgleich.
Geheimnisse bei Kleinkindern oft positiv
Geheimnisse bedeuten in diesem Alter aber meistens: Überraschungen. Der Schlüsselanhänger etwa, den man in der Kita für den Vatertag bastelt und von dem man Papi nichts verraten soll. «Was nicht ausdrücklich als Geheimnis bezeichnet wird, verstehen kleine Kinder auch nicht als solches», sagt die Professorin an der Psychologischen Hochschule Berlin. Zwischen dem Geständnis, dass es in die Hose gemacht hat oder dass es keinen Brokkoli mag, mache das Kind entsprechend keinen Unterschied, solange es nicht explizit zu Stillschweigen angehalten werde.
Überhaupt seien Geheimnisse für kleine Kinder in der Regel eher positiv, sagt Volbert. Neben der Überraschung für Papi gehört dazu vielleicht, dass Luisa auf dem Spielplatz eine Lücke in der Hecke entdeckt hat, in der sie ihre schönsten Steinchen versteckt. Oder dass Bendrit ein bisschen für Luisa schwärmt.
Zu Hause erfährt Papi dann nicht selten doch vom Schlüsselanhängerbasteln– wenn auch mit dem Zusatz: «Es ist aber eine Überraschung!» Obwohl ein gewisses Grundverständnis also früh vorhanden ist, muss die Fähigkeit, ein Geheimnis zu bewahren, erst heranreifen. Dazu gehört, dass es einfacher ist, einen Umstand zu verneinen oder zu verschweigen, als eine andere Person aktiv zu täuschen, wie Volbert sagt. So sagen Kleinkinder vielleicht, sie hätten, wie geheissen, nicht nachgeschaut, was für ein Spielzeug sich unter der Decke verberge. Die Frage, ob die Puppe denn ein gelbes oder blaues Kleid trage, beantworten sie vermutlich trotzdem mit Gelb.
Ältere Kinder wägen ab
Mit dem Alter nimmt nicht nur die Kompetenz zu, sondern auch die Autonomie der Kinder. «Grössere Kinder behalten Geheimnisse nicht einfach für sich, nur weil man sie dazu angehalten hat», sagt Volbert. Sie treffen aktiv eine Entscheidung, und sie wägen ab: Wer hat zur Geheimhaltung aufgefordert? Vor wem soll etwas verschwiegen werden? Worum geht es? Drohen einem selbst Konsequenzen? Verrät man einen Freund? Erzählt die Fünfjährige dem Mami noch unumwunden, dass ihr Gspänli den Ball in Nachbars Garten gekickt hat, behält der Elfjährige vermutlich für sich, wenn sein bester Freund an der Prüfung abschreibt.