Alessandros Schulweg ist kurz. Er geht an Wohnwagen vorbei, sieht die Pferde grasen, der Geruch von Stroh liegt über dem Gelände. Dass die Schule bloss ein paar Quadratmeter gross ist, fällt ihm längst nicht mehr auf. «Es ist ein ganz normales Familienleben», sagt Priscilla Errani schulterzuckend. Ihr Mann, Marco Moressa, schüttelt lachend den Kopf. Er ist nicht ganz einverstanden: «Im Vergleich zu Leuten, die nicht im Zirkus leben, gibt es schon Unterschiede.»
Bern Wankdorf. Der Circus Knie ist eben erst hier angekommen. Die Zelte stehen bereits, werden gerade innen wie aussen geschrubbt und gewischt. In zwei Tagen starten die Shows. «Wir sind gerne in Bern, weil hier Zirkuszelt und Wohnwagen nebeneinander Platz haben», sagt Priscilla Errani, während sie in ihren Plateau-Crocs über das Gelände schlendert. Als Zirkusartistin ist sie es gewohnt, dass Privatleben und Arbeit eng miteinander verwoben sind. Sie kennt es nicht anders: Sie stammt aus der italienischen Zirkusfamilie Errani, deren Geschichte mehr als fünf Generationen zurückreicht. Dass sie heute mit dem Circus Knie unterwegs ist, ist kein Zufall: Ihr Cousin, Maycol Errani, ist der Mann der Circus-Knie-Direktorin Géraldine Knie.
«Fahr vorsichtig, Alessandro», ruft Priscilla Errani ihrem Sohn nach, der gerade auf einem kleinen elektrischen Motorrad an den Pferden vorbeiflitzt. Alessandro ist neun Jahre alt – und auch er wurde, wie seine Mutter, in die Zirkuswelt hineingeboren.
Alessandros Vater, Marco Moressa, kennt ebenfalls kein Leben ohne den Zirkus: Er war gerade zwei Jahre alt, als seine Eltern Arbeit in der Administration eines Zirkus fanden. 1998 wechselte die Familie zum Circo Errani. Priscilla und Marco waren noch Teenager, aber es funkte sofort – und seither leben und arbeiten sie zusammen. Ein Leben im Zirkus. Ein Leben auf Reisen.
Eltern mit Messern und Armbrust
Ab diesem Zeitpunkt werden noch gut 15 Jahre vergehen, bis Alessandro die beiden Artisten zu Eltern macht. Bis dahin ist das Paar in ganz Europa unterwegs. Marco Moressa, der begabte Jongleur, sagt, sein grosses Talent im Leben sei es, sehr präzise Bewegungen einstudieren zu können. Priscilla Errani, die Hula-Hoop-Tänzerin, kontrolliert mit ihrem Körper bis zu 30 Reifen gleichzeitig. Ihre Engagements führten sie zu verschiedenen Zirkuskompanien, auf Kreuzfahrtschiffe, in deutsche Varietétheater.
Irgendwann begannen die beiden, gemeinsame Nummern einzustudieren. Als Duo «Double Risk» feuerten sie nicht nur mit Messern aufeinander – oder besser gesagt: wahnsinnig knapp aneinander vorbei –, sondern auch mit der Armbrust. Jahr um Jahr hatte das Artistenpaar seinen Kinderwunsch hinausgeschoben. Nur noch dieses eine Engagement, sagten sie sich. Nur um im folgenden Jahr dasselbe Argument zu bemühen. Doch dann, mit der neuen Nummer, schien der Moment gekommen: Priscilla wurde schwanger. Und da sie somit nicht mehr HulaHoop tanzen konnte, bewarb sich das Duo «Double Risk» für die folgende Saison bei verschiedenen Kompanien. Sie erhielten einen Vertrag in einem deutschen Zirkus.
Mitte Januar 2016 kam Alessandro zur Welt. Am 6. März standen seine Eltern wieder mit Messern und Armbrust in der Manege. «Das war eine harte Zeit», erinnert sich Priscilla. «Neues Baby, neuer Zirkus, neuer Auftritt. Alles war neu.» Dazu kamen die schlaflosen Nächte, das ständige Reisen, die täglichen Auftritte. Aber die frischen Eltern erhielten auch Hilfe: «Im Zirkus sind wir wie eine grosse Familie. Wir unterstützen einander. Wenn wir unseren Auftritt hatten, haben sich andere Artisten um Alessandro gekümmert.» Als die Saison endet, ist Alessandro fast ein Jahr alt und bereits durch ganz Holland, Deutschland, Norwegen und Schweden gereist.
Alessandros zweites Lebensjahr verbrachte die Familie in einem Zirkus in Moskau. Alessandro besuchte die Zirkus-Kita, wo ihn die russischen Mitarbeitenden Sascha riefen, eine Kurzform des russischen Namens Aleksandr. Und als sie Moskau ein Jahr später wieder verliessen, hörte der kleine Alessandro nur noch auf seinen neuen russischen Spitznamen. Er soll erst spät angefangen haben zu sprechen, wohl weil er in diesen ersten Jahren mit so vielen unterschiedlichen Sprachen konfrontiert war. «Aber seit er angefangen hat, ist er nicht mehr zu bremsen», sagt Priscilla.