Umzug aufs Land
Nathalie spürte die Einsamkeit nach fünf Jahren Mutterschaft: «Sie war wie Kaugummi, der überall kleben bleibt und dessen dünner Faden sich über alles zieht.» Auslöser dafür war der Umzug der Familie aufs Land. Plötzlich war es ein Kraftakt, Freunde zu treffen, überhaupt mit Menschen in Kontakt zu kommen. In der Beziehung zu ihrem Partner entstanden unterschiedliche Bedürfnisse. «Mein Mann ging im Familienleben und der ländlichen Ruhe auf. Mir fehlte etwas.» Als Eltern waren sie ein tolles Team, aber das reichte nicht mehr. «Ich wollte mehr Zeit zu zweit, ausgehen und etwas erleben. Ihm genügte die Familie.» Nathalie lebte ihre Bedürfnisse alleine aus. Das Paar lebte sich auseinander. Heute sind Nathalie und ihr Ex-Partner getrennt und teilen sich das Sorgerecht der beiden Kinder. «Ich fühle mich vor allem alleine, wenn die Kinder bei mir sind und schlafen. Warum, weiss ich nicht», sagt Nathalie. Vielleicht vermisse sie ein Stück Freiheit, mutmasst sie.
Die meisten Menschen fühlen sich hin und wieder einsam. Diese situative Einsamkeit ist zwar unangenehm, aber nicht zwingend problematisch. Anders die chronische. «Das bedeutet für den Körper Stress», erklärt Simona Högstadius. Wie die Forschung zeigt, erhöht Stress das Risiko für eine ganze Reihe körperlicher und psychischer Erkrankungen. Dazu gehören Herz-Kreislauf-Probleme, Immunschwächen, Infektionen, Depressionen oder Angststörungen. Das Gefühl der Isolation begünstigt auch postpartale Depressionen. «Wir wissen, dass mangelnde soziale Eingebundenheit und wenig Unterstützung aus dem Umfeld Risikofaktoren sind», sagt Andrea Borzatta, Präsidentin des Vereins Postpartale Depression Schweiz.
Mit Gefühlen befassen
Umso wichtiger ist der Umgang mit dem Thema. Aber was tun mit diesem schambehafteten Gefühl? «Es brauche Akzeptanz», sagt Simona Högstadius. Einsamkeit darf zur Elternschaft gehören wie andere Gefühle auch. «Wir müssen als Eltern nicht nur erfüllt und glücklich sein. Wir dürfen auch traurig, wütend oder eben einsam sein.» Dies anzuerkennen und darüber zu reden, sei zentral. Nils hat sich mit seiner Einsamkeit befasst. «Als ich Vater wurde, war der Umgang mit Gefühlen nicht meine Stärke.» Wie viele Männer aus seiner Generation habe auch er nicht gelernt, mit negativen Emotionen umzugehen. Sie überforderten ihn. Also unterdrückte er sie, flüchtete, ging aus und trank viel. «Irgendwann realisierte ich: Diese Strategie geht nicht auf und ist nicht gesund. In den letzten Jahren lernte ich, meine Gefühle zu erkennen, anzunehmen, besser mit ihnen umzugehen und darüber zu reden.»
Das Erkennen ist das eine, das andere ist die Handlung. «Einsamkeit kann man beeinflussen und verändern», versichert die Psychotherapeutin. Was hilft, hängt von den Ressourcen, Interessen und Bedürfnissen der Betroffenen ab. Ein freier Abend – weg von Kind und Verpflichtungen, aber ohne schlechtes Gewissen – kann genauso guttun wie ein Gruppenkurs. Wichtig: keine zu hohen Ansprüche, kein Druck und möglichst wenig Bewertung. Högstadius: «Der Malkurs muss nicht die totale Erfüllung sein und aus dem Treffen mit der anderen Mutter muss keine tiefe Freundschaft entstehen. Es geht darum, Muster zu durchbrechen, einen Anfang zu machen.»
Schon kleine Veränderungen im Alltag machen einen Unterschied. Högstadius hat Patient:innen, denen es hilft, Podcasts zum Thema Elternschaft zu hören. Weil sie so merken, dass es anderen geht wie ihnen. Einen wichtigen Beitrag kann auch das Umfeld leisten. Indem es aktiv nachfragt, wie es jemandem geht. «Niemand sollte alleine durch eine solche Krise gehen. Meine Bitte an das Umfeld: Versucht, hinter die Fassade zu schauen und bietet Unterstützung und Verständnis, ohne Druck», sagt Andrea Borzatta. Mit Vorsicht zu geniessen sind laut Högstadius soziale Medien. Sie können hilfreiche Inputs liefern und Austausch ermöglichen. Gleichzeitig aber können Inhalte, die das perfekte Familienleben präsentieren, negative Gefühle verstärken. Sie empfiehlt, Informationsquellen sorgfältig zu wählen.
Wird Einsamkeit zur täglichen Belastung oder ist das Gefühl sehr stark, ist es ratsam, mit Fachpersonen zu sprechen. Das können Hebammen, Gynäkolog:innen, Elternberater:innen oder Psycholog:innen sein.
Was hilft?
Lena, Renée, Nils und Nathalie spüren die Einsamkeit noch. Sie haben aber Strategien für den Umgang entwickelt. Lena telefoniert. Wenn ihre Tochter schläft, ruft sie ihre Freundinnen an. «Das mache ich bewusst gegen das Alleinsein. Ich telefoniere eigentlich nicht gerne.» Ausserdem teilt sie sich ihre freien Wochenenden sorgfältig ein. «Es gelingt mir immer besser, die Balance zwischen Entspannung, Sport und Austausch zu finden.»
Renée und ihr Partner versuchen es mit getrennten Wohnungen. In der Hoffnung mehr Zeit für eigene Bedürfnisse zu haben und gemeinsame Zeit mehr geniessen zu können. «Manchmal denke ich an eine Pflanze, die zu wenig Wasser bekommt und eingeht. Das bin ich. Jetzt gebe ich mir Wasser und kann hoffentlich wieder blühen.»
Nils plant. Er vereinbart frühzeitig Treffen mit Freund:innen, um in der Zeit ohne seine Tochter etwas unternehmen zu können. Er sucht ein erfüllendes Hobby. Und: «Ich arbeite an mir. Ich bin überzeugt: Einsamkeit hat viel mit einem selbst zu tun. Man kann sie mit Aktivitäten verringern, aber sie lässt sich nicht wegplanen.»
Nathalie helfen ihr Umfeld und ihre Offenheit: «Meine Freunde holen mich raus. Manchmal verlegen sie ihre Treffen zu mir nach Hause, damit ich trotz Kindern dabei bin.» Zudem redet sie über ihre Gefühle und hat festgestellt: «Ich bin nicht alleine mit dieser Einsamkeit. Sie betrifft viele – auch jene Mütter und Väter, bei denen alles gut zu sein scheint.»