7. Mai 2021: «Wir schaffen es nicht mehr! (…) Julia wechselt im Sommer die Schule. In eine Institution mit Teilinternat. Wir haben einen wundervollen Ort gefunden, an dem sich Julia bestimmt wohlfühlen wird. Reden wir uns dies ein? Nein! Wir sind wirklich überzeugt. (...) Und trotzdem. Wie sollen wir wissen, ob das, was wir entscheiden, im Sinn von Julia ist? Wir können es nur hoffen. Nur spüren. Erahnen. Glauben.»
Julia hat das Angelman-Syndrom, eine seltene, genetisch bedingte Beeinträchtigung. Sie ist nicht in der Lage zu sprechen, gibt lediglich Laute von sich, hat epileptische Anfälle, schläft nicht durch, kann nicht selbstständig auf die Toilette oder duschen. Zwar läuft sie im Gegensatz zu vielen anderen Angelman-Kindern, erkennt aber keine Gefahren und muss darum rund um die Uhr überwacht werden. Seit 14 Jahren betreuen Melanie und Roman Della Rossa Julia zu Hause. Melanie dokumentiert den Alltag der Familie, zu der auch Sohn Yanis (16) gehört, in ihrem Facebook-Blog «Julia – der Weg mit unserem ‹Angel›».
Ein paar Jahre schon lese ich ihre Auszüge aus dem Leben mit einem beeinträchtigten Kind – seit ich selber weiss, dass meine Tochter eine Entwicklungsstörung hat, die so stark ist, dass es einer geistigen Behinderung gleichkommt. Melanies Beiträge sind schonungslos offen und radikal emotional – es tut gleichzeitig gut und weh, sie zu lesen. Weil ich mehr über die Della Rossas erfahren wollte, traf ich mich mit Melanie bereits vor etwas mehr als 3 Jahren.
Damals geht Julia in die Heilpädagogische Schule in Zug, fünfmal die Woche, viermal davon ist sie bis 18 Uhr betreut. Danach ist je ein Elternteil bis zirka 23 Uhr mit ihr beschäftigt, bis sie schläft – und später, wenn sie in der Nacht aufwacht. Angelman-Kinder schlafen sehr schlecht, ihnen fehlt das Schlafhormon. Julia ist mitten in der Nacht hellwach und schläft manchmal für mehrere Stunden nicht mehr ein. Dank eines sogenannten Talkers ist es Julia möglich, ein paar ihrer Bedürfnisse auszudrücken. Doch Schmerzen benennen kann sie nicht. Wenn Julia weint oder schreit, dann wissen die Della Rossas: Irgendetwas stimmt nicht. Aber was?
Während Melanie schon zu jener Zeit sagte, «irgendwann werden wir es nicht mehr schaffen», habe ich 2021 über ihren Blog erfahren, dass sie nun an jenem Punkt sind, vor dem auch ich als Vater Angst habe, der aber unweigerlich kommen wird: Sie können ihr Kind nicht mehr die ganze Woche zu Hause betreuen, sondern müssen es auch über Nacht weggeben.
Ein 14-jähriges Mädchen, das nicht sagen kann, ob es zu diesem Schritt bereit ist, weder sein Einverständnis noch seine Ablehnung ausdrücken kann, «ziehen zu lassen» – ich kann nur erahnen, wie teuflisch das brennen muss. Das Kind zu Selbstständigkeit zwingen – wo doch gar keine Selbstständigkeit vorhanden ist.