Bekannte meiden Begegnung
Mit einem leeren Maxi Cosi fahren die beiden nach Hause. «Das war so hart», erinnert sich Rebekka Ruzio. Auch der Milcheinschuss, das Abpumpen, das Wochenbett. Besonders treffen sie Kommentare wie jener einer Nachbarin: «Ihr könnt ja ein neues Baby machen.» Oder wenn Bekannte die Strassenseite wechseln, um ihr nicht begegnen zu müssen. Halt gibt ihr die Hebamme, die täglich kommt. Zu Beginn spricht sie auch viel mit ihrem Umfeld über Camille. «Aber irgendwann habe ich gemerkt, dass manche nicht mehr zuhören mögen.» Schliesslich stösst sie auf eine Facebook-Gruppe für Eltern mit Trisomie-18-Kindern. Dort fühlt sie sich aufgehoben, kann auch zum x-ten Mal dasselbe erzählen.
Über diese Gruppe finde ich zwei weitere Frauen, die mir per Videocall ihre Geschichte erzählen. Elettra lebt in Berlin, ihr Sohn Keman starb knapp vier Monate nach der Geburt. Ramona wohnt in Duisburg, ihre Tochter Mila ist 18 Monate alt. Für beide kam eine Abtreibung nicht in Frage, beide entschieden sich, den Weg der Maximalversorgung zu gehen. Das heisst, sie wollten alle möglichen lebenserhaltenden Massnahmen oder Operationen nach der Geburt ausschöpfen.
Dass sie sich für diesen Weg entschlossen, stiess bei der Mehrheit der Ärzt* innen auf Unverständnis. Beide Frauen berichten von abschätzigen Kommentaren und wie sie für Behandlungen kämpfen mussten. Elettra sagt: «Ich merkte, dass ich nicht einfach zusehen konnte und wollte, wie Keman stirbt. Er wollte leben, er kämpfte.» Doch immer wieder sei ihnen gesagt worden, sie sollen ihn gehen lassen.
«Wir fanden niemanden, der bereit war, ihm die benötigte medizinische Versorgung zu geben, bis sich ein Krankenhaus fand, das sich bereit erklärte, einen medizinischen Eingriff vorzunehmen.» Nach einer wochenlangen Odyssee zwischen Kinderhospiz und Spital stirbt Keman während eines Eingriffs an seinem Herzen im Januar 2021. «Nach dem Eingriff wurde Keman von der Polizei für eine Obduktion beschlagnahmt, so läuft das Verfahren. Laut Obduktionsbericht geschah bei der Operation ein Fehler, der zu Komplikationen und - dementsprechend - zu Kemans Tod führte», erzählt Elettra.
Sie wird überwältigt von Trauer, aber auch von Wut gegen das ärztliche Fachpersonal: «Unsere Gefühle und Wünsche wurden total ignoriert und missachtet. Für Behinderte gelten aber die gleichen Rechte auf Behandlung wie für Nicht-Behinderte.» Elettra findet, Ärzt* innen sollten Diagnosen stellen und keine Prognosen.