Der Schmerz ist unsichtbar
Es gibt unterschiedliche Gründe, weshalb Mütter oder Väter tätlich werden. Die einen glauben tatsächlich, körperliche Strafen gehörten zur Erziehung, sie schlagen, wenn das Kind frech ist oder lügt. Andere sind überfordert und misshandeln im Affekt. Wieder andere haben eine gestörte Beziehung zum Kind, sie sind überzeugt, der Säugling schreie nur, um sie zu ärgern oder zu provozieren. «Trotzdem», sagt Renate Schlaginhaufen, «die Mehrzahl der Eltern will eigentlich das Beste für ihr Kind.»
Physische Misshandlung und sexuelle Ausbeutung machen je rund einen Drittel der Kinderschutzfälle aus. Bei jedem sechsten Kind ist der Schmerz unsichtbar, die Misshandlung psychisch. Da gibt es jenes Mädchen, das als Strafe auf dem Balkon schlafen muss, selbst wenn es draussen schneit. Oder den Jungen, der beim kleinsten Anlass beschimpft wird, er sei ein dummes Nichts. Und manchmal misshandeln Eltern gar, ohne es zu merken: Die zweijährige Laura befand sich nur zufällig im Kinderspital. Ihre ältere Schwester war aus dem Fenster gefallen, auch das ein Fall für den Kinderschutz. Der Sturz stellte sich als Unfall heraus, die Eltern hatten ihre Aufsichtspflicht nicht verletzt. Doch während eines Besuchs bemerkte ein Arzt, wie extrem dünn das kleine Schwesterchen war. Er bat um Erlaubnis, das Mädchen zu untersuchen. Das Kind wog nicht einmal acht Kilogramm, man konnte jede Rippe sehen. Die Eltern erklärten, Laura habe nie Appetit, willigten aber ein, sie zur Beobachtung im Spital zu lassen. Dort konnte kein medizinischer Grund für die Magerkeit festgestellt werden. Vor allem aber ass das Kind Unmengen. Auch hier beschloss das Kinderschutzteam, die Eltern zu konfrontieren.
Die Kinderschutzgruppe bekommt längst nicht alle Kinder, die sie betreut, auch zu Gesicht. Das Team berät auch Fach- und Bezugspersonen, Grosseltern, Kinderärzte, Bekannte, meist telefonisch. Hannes Bielas, Oberarzt für Psychosomatik und Psychiatrie, coacht seit drei Monaten eine Frau, die befürchtet, ein Mädchen werde vom Stiefvater missbraucht. Das achtjährige Kind hatte sich seiner Mutter anvertraut und diese glaubte ihr auch. Doch sie traute sich nicht, zu handeln, aus Angst, ihre Aufenthaltsbewilligung zu verlieren. Bielas Gesprächspartnerin ist eine Nachbarin der Mutter. Sie wählte die Nummer des Kinderschutzes, um zu fragen, was sie tun sollte. Bielas rät in solchen Situationen zu einer Strafanzeige, damit Opfer und Täter so rasch wie möglich getrennt werden. Weiter intervenieren kann er nicht, solange die Frau auf Anonymität besteht. Aber er hat ihre Telefonnummer und wird sie in regelmässigen Abständen anrufen, um sich zu erkundigen, wie es weitergeht.