Wir Eltern: Frau Madubuko, unsere heutige Gesellschaft wird oft als tolerant wahrgenommen. So würden sich die meisten Eltern wohl als weltoffen beschreiben. Weshalb braucht es einen Erziehungsratgeber, der «Erziehung zur Vielfalt» heisst?
Nkechi Madubuko: Tatsächlich ist unser Alltag längst multikulturell; Kinder kommen durch Gleichaltrige mit anderen Familienmodellen, Religionen, Herkünften, Hautfarben oder Sprachen in Berührung. Doch diese Vielfalt führt nicht automatisch dazu, dass sich Kinder untereinander gleich behandeln.
Es kommt zu Ausgrenzungen und Abwertungen, da sie eben nicht vorurteilsfrei sind. Vielmehr «lesen» Kinder Merkmale anderer und bewerten diese – das kann die Hautfarbe sein, die ethnische und kulturelle Herkunft, aber auch physische Fähigkeiten, Geschlecht, Weltanschauung oder Religion, Einkommen der Eltern und Sprache.
Schon Kleinkinder speichern entsprechende Bewertungen über Merkmale ab, schreiben Sie. Wie ist das zu verstehen?
Im Rahmen des kindlichen Entwicklungsprozesses lernen Kinder die Sprache ihrer Eltern oder was es bedeutet, zu lächeln. Mit neun Monaten können sie Hautfarben unterscheiden; später erkennen sie den Unterschied zwischen männlich und weiblich, beziehungsweise lernen die Attribute, die den Geschlechtern zugeschrieben werden− «ah, Männer tragen Hosen, Frauen manchmal auch Röcke». Aufgrund von Kommentaren oder unterschiedlichen Verhaltensweisen von Erwachsenen lernen Kinder ausserdem die verschiedenen Bewertungen, etwa zu Hautfarbe oder Herkunft.
Eine grosse Rolle spielen auch Medien, Werbung, Kinderbücher und -filme. Dort werden allerdings meist Stereotype gezeigt, vereinfachte Darstellungen also, die zwar eine Realität suggerieren, aber tatsächlich nur verzerrte Ausschnitte oder gar rassistische Botschaften liefern. Wie etwa: «Chinesen sind gelb», «Mädchen sind nicht mutig», «Eine Familie besteht aus Vater, Mutter und zwei Kindern», «Nur weisse Menschen sind normal». Bestimmte Gruppen wie etwa Menschen mit Behinderungen sind oft gar nicht sichtbar. So entstehen Schubladisierungen, die eine offene und wertschätzende Wahrnehmung verhindern.