«Eltern meinen viel zu oft, alle Schwierigkeiten mit ihren Kids allein lösen zu müssen», sagt Rahel Pfiffner (36) vom Elternnotruf in Zürich. Je früher verunsicherte Mütter und Väter sich beraten lassen, desto besser die Aussicht, erst gar nicht in eine dramatische Abwärtsspirale zu schlittern. Von einer «Schuld» der Eltern aber will Rahel Pfiffner nicht sprechen – denn diese verstricken sich nicht aus Böswilligkeit in Machtkämpfe mit ihren Kindern, sondern aus Ohnmacht.
Genau wie für Kinder ein Wutausbruch nicht zum Ziel hat, Mama oder Papa zu provozieren. «Für ein aggressives Kind ist das Wüten und Toben für den Moment die beste Möglichkeit, eine Lösung für sein Problem zu finden», erklärt Rahel Pfiffner. «Kinder wollen nicht ihre Eltern tyrannisieren, sondern ihre Not ausdrücken.»
Aggressionen bei Kindern sind vielschichtig und haben nie eine einzelne Ursache. Und wie ein Kind seine Wut ausdrückt, hat immer auch mit seinem Temperament zu tun. Ein extravertiertes Mädchen schlägt heftiger um sich, ein hochsensibler Junge reagiert schneller gereizt und überfordert als ein Kind mit stillem Charakter. Gemeinsam aber ist allen Kindern, dass sie lernen müssen, ihre Gefühle zu regulieren und Frustration auszuhalten. Das gelingt dem einen früher, dem anderen später.
Emotionen überfluten das Kind
Ein Kleinkind überfluten die Emotionen je nach Charakter ungesteuert und ungehemmt. Mit seiner Umwelt – vorab den Eltern – lernt es Zorn, Trauer und Frustration allmählich zu benennen, und im Kindergarten verfügen viele Kinder schon über eine relativ hohe Emotionsregulation.
Ein genaues Zeitfenster für diese will Rahel Pfiffner nicht nennen. Denn heute seien viel Fachleute abgekommen von einer genau nach Jahren bezifferten Einteilung in Entwicklungs- oder sogenannte Autonomiephasen: «Das Herausschälen der eigenen Autonomie dauert doch ein Leben lang!» Ein Kind versuche, seine eigene Persönlichkeit zu entwickeln. Es möchte den Eltern ge- fallen – sich gleichzeitig aber abgrenzen und seinen Weg finden. Reibereien sind da programmiert.
Eltern: Vorbilder, keine Götter
Eltern sind zwar wichtige Vorbilder für das Sozialverhalten der Kinder – aber sie sind keine Götter, die allzeit in stoischer Gelassenheit ihren Nachwuchs umhüllen. Eltern sind Menschen mit eigenem Charakter, mit Stimmungsschwankungen und mit täglichen Herausforderungen konfrontiert.
Trotzdem ist es laut der Psychologin hilfreich, bei einem sich anbahnenden Tobsuchtsanfall des Nachwuchses kurz innezuhalten. Denn erhält das Kind nichts als eine negative Rückmeldung auf sein Wutgefühl, blickt es in die ärgerlich verdrehten Augen der Mutter oder wird vom Vater harsch an den Schultern gepackt, bleibt ihm nur, sich aus Betroffenheit erst recht zu wehren.
Die Abwärtsspirale nimmt an Fahrt auf. «Für Machtkämpfe braucht es immer mindestens zwei», bringt es die Psychotherapeutin Rahel Pfiffner auf den Punkt. «In solch heftigen Momenten ist es besser, mit wenigen und ruhigen Worten die Situation zu de- eskalieren versuchen.»
Gefühle des Kindes benennen
Das geht am besten, indem man in der Situation die Gefühle des Kindes benennt: «Das macht dich gerade sehr wütend, gell.» Dadurch fühlt sich das Kind in seinem quälenden Zustand wahrgenommen. Klärende Gespräche aber unbedingt auf einen ruhigeren Zeitpunkt verschieben.
Rahel Pfiffner selber beugt mit ihren Kindern zusammen mit kleinen Entspannungsübungen für angespannte Szenen zu Hause vor: «Ab und zu machen wir zum Beispiel Katzenbuckel- oder Streckübungen», erzählt sie, und räkelt sich anschaulich auf ihrem Praxissessel, indem sie Arme und Beine kurz in alle Richtungen streckt. «Das hilft dann auch in stressigen Momenten.»
Wut ist auch gut
Expert* innen aus Psychologie, Neurologie und Pädagogik reden Aggressionen per se nicht nur schlecht. Jesper Juul schrieb ein ganzes Manifest zur kindlichen Aggression und plädiert dafür, die Notwendigkeit und den Nutzen dieses starken Gefühls anzuerkennen. «Ohne Aggression wäre der Mensch nicht fähig, Karriere zu machen, guten Sex zu haben und Träume zu verwirklichen », schreibt der mittlerweile verstorbene Star unter den Familientherapeuten.
Auch wenn es keinen Nachweis für einen Aggressionstrieb in freudschem Sinne gibt – wer hat schon wiederkehrend Lust auf Krieg und Keilereien? – so ist Wut dennoch eine natürliche Reaktion auf einen Schmerz, ob körperlicher oder seelischer Natur. Ein Antrieb, sich zu wehren, etwas zu ändern, etwas zu erreichen.
Führt Medienkonsum zu Aggression?
Ernst nehmen Fachleute den Zusammenhang zwischen Medienkonsum und kindlicher Aggression, denn dieser führt mitunter tatsächlich zu Gereiztheit und Wutausbrüchen. Gamen etwa versetzt den Körper in einen Kampfmodus, bei dem die Neurotransmitter im Gehirn zwar feuern, die geballte Körperspannung sich beim Starren auf den Bildschirm aber nicht entladen kann.
In ihrer Beratung gibt Rahel Pfiffner den Eltern jeweils den Ratschlag, mit den Kindern nach dem Gamen ein Zeitfenster fürs Dampfablassen einzuplanen.
Wichtig sei auch zu wissen, dass sowohl reale Gewalt als auch Gewalt auf dem Bildschirm wie eine Modellvorlage für ein Kind wirken können. Angestaute Aggression entlädt sich dann schneller mit der Faust statt Worten.